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Polyphenole

In aller Munde

Das Interesse an Polyphenolen war noch bis in die 1970er-Jahre fast nur akademischer Natur. In der BRD haben sich vor allem die Heidelberger Schule um K. Freudenberg, danach O.Th. Schmidt und sein Schüler W. Mayer mit diesen Naturstoffen beschäftigt. W. Mayer leistete Pionier arbeit bei der Strukturaufklärung komplexer Tannine, die z. B. aus der Eiche, Edelkastanie oder dem Granatapfelbaum isoliert werden können. Die Forschungsergebnisse sind die Basis moderner Polyphenolforschung. Die Bedeutung dieser Stoffklasse hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen, nachdem man erkannt hat, welches Potenzial sie als Antioxidantien zur Verringerung von Krankheitsrisiken und Defiziten im Alter besitzen können. Viele epidemiologische Studien zeigen einen möglichen Schutz gegen altersbedingte chronische und degenerative Krankheiten bis hin zur Verringerung des Krebsrisikos.

Was sind Polyphenole?

Polyphenole werden heute definiert als pflanzliche Naturstoffe,
- die mit anderen Biomolekülen (Eiweiße, Saccharide) interagieren können,
- wasserlöslich sind und mehrere Di- oder Trihydroxyphenyleinheiten besitzen müssen.

Diese Eigenschaften verdanken sie ihrer Fähigkeit, tierische Haut zu gerben, ein Handwerk, das bis in die Antike dokumentiert ist. Die Substanzen wurden deshalb synonym auch als Tannine bezeichnet. Der Definition folgend zählen zu den Polyphenolen streng nur:
a) die kondensierten Proanthocyanidine wie die Procyanidine A1 und A2 und die Procyanidine der B-Gruppe (Abb. 1),
b) die hydrolysierbaren Gallo- und Ellagitannine, z.B. die Pentagalloylglucose, das Vescalin, Vescalagin, ihre Stereoisomere oder das Punicalagin (Abb. 2),
c) die Phlorotannine der Braun- und Rotalgen (Abb. 3).
Auch viele andere pflanzliche Inhaltsstoffe werden als Tannine bzw. Polyphenole bezeichnet, obwohl sie nicht die Fähigkeit besitzen, Leder zu gerben. Dazu zählen Substanzen im grünen und schwarzen Tee die Theatannine und ihre Oxidationsprodukte (Abb. 4; K. Kuhnert, labor&more 2011, 1, 60-63). Die Phenolcarbonsäuren p-Cumarsäure, Ferulasäure etc. sind mit Polyolen wie der Chinasäure verestert und werden, da sie in Kaffeebohnen vorkommen, Kaffeetannine genannt. Sehr viele Polyole wie das von W. Mayer aus Hamamelis Virginiana isolierte Hamamelitannin (Liebigs Ann. Chem. 1965, 232) oder das Verbascosid und Isoverbascosid aus Paulownia tomentosa (Z. Naturforsch. 1982, 1633) enthalten Gallussäureeinheiten und/oder sind mit Zimtsäurederivaten verestert (Abb. 5). Die größte Gruppe von Polyphenolen bilden die Flavonoide mit bis heute über 8000 isolierten Verbindungen. Dazu zählen Flavane, Flavone, Flavonole, Isoflavone und Anthocyane. Sie selbst entfalten keine Gerbwirkung, Flavanole können aber zu komplexen, höhermolekularen Spezies kondensieren und zeigen dann Gerbeigenschaften. Man nennt sie deshalb kondensierbare Gerbstoffe im Gegensatz zu den hydrolysierbaren Gerbstoffen. Untersucht wurde diese Reaktion beim Catechin und Epicatechin schon Anfang der 1960er-Jahre (z.B. W. Mayer et al.; Liebigs Ann. Chem. 1961, 79- 84). Zählt man zu den Polyphenolen auch so einfache Verbindungen wie Vanillin, Salizylsäure und die Di- und Trihydroxyphenole, dann ergibt sich ein verwirrendes Bild dieser Stoffgruppe. Zur Konfusion trägt bei, dass die Begriffe Polyphenol und Tannin nebeneinander ohne klare Abgrenzung benutzt werden. S. Quideau hat deshalb vorgeschlagen, den Begriff Polyphenol strenger zu fassen:
Der Ausdruck „Polyphenol“ soll zur Definition von pflanzlichen Sekundärmetaboliden benutzt werden, die ausschließlich aus dem Shikimat-Phenylpropan-Biosyntheseweg und /oder dem Polyketid-Biosyntheseweg stammen. In ihrer grundlegendsten Struktur müssen diese Verbindungen mehr als einen Phenolring enthalten und dürfen keine Stickstoff-Funktionalitäten tragen.

Polyphenole als Antioxidantien

Pflanzliche Polyphenole gelten als Teil der pflanzlichen Abwehr gegen Fressfeinde und Mikroben (Pilze, Bakterien) sowie als Schutz gegen die UV-Strahlung der Sonne. Die wichtigste Eigenschaft für den Menschen ist wahrscheinlich ihre Fähigkeit, reaktive Sauerstoffspezies (z.B. •O2 –, HO•, RO•, HOO•, ROO•) abzufangen, wie sie z.B. bei der oxidativen Phosphorylierung in der Atmungskette oder der Oxidation von Lipoproteinen, Proteinen, DNA- und RNA auftreten. Sie können aber auch als reduktiv wirksame Substanzen natürliche Antioxidantien wie das Tocopherol regenerieren. Die Phenoleinheit (Brenzcatechin, Pyrogallol) gibt bei dieser Reaktion entweder ein Wasserstoffatom an das Radikal ab und bildet selbst ein durch Mesomerie stabilisiertes Radikal (a) oder sie überträgt ein Elektron auf das Radikal unter Bildung eines Radikalkations ArOH•+(b):
(a) ArO–H + R• ??RH + ArO•
(b) ArO–H + R• ??R– + ArOH•+
Je niedriger die Energie der Bindung ArO–H ist, desto leichter kann die Bindung homolytisch gespalten werden. Untersuchungen zur Antioxidationsfähigkeit haben gezeigt, dass die Gallotannine und die Ellagitannine mit zunehmender Zahl an Galloyl und/oder Biaryleinheiten äußerst starke Antioxidantien sind, ihr Reduktionsvermögen übersteigt das der meisten Flavonoide bei Weitem. Brenzcatechin- und Pyrogallolelemente können nicht nur antioxidativ (= reduzierend), sondern auch oxidativ wirken. In Chelatkomplexen mit Fe3+ oder Cu2+ entsteht zunächst ein Phenoxyradikal, das z.B. mit Sauerstoff das reaktive •O2 – erzeugen kann (G.-J. Fan et al, Chem. Eur. J. 2009, 15, 12889 – 12899). Dabei werden die Phenole zu o-Chinonen oxidiert (Abb. 6).
Ob nun Polyphenole als Antioxidantien oder als Produzenten von reaktiven Spezies wirken (ROS), hängt offenbar von vielen Faktoren ab (S. Quideau): Struktur, Redoxpotenzial, Konzentration, Löslichkeit, pH-Wert, Matrix, Zusammensetzung, die Anwesenheit von Metallionen etc. Polyphenole zeigen deshalb je nach Milieu ein „ambivalentes Verhalten“. Nach Untersuchungen mit dem Phenolatanion der Kaffeesäure scheinen Substanzen mit Brenzcatechinstruktur (Abb. 6) als Oxidantien besonders gut DNA-Brüche zu induzieren und dosisabhängig cytotoxisch zu wirken. In normalen Zellen könnten sie danach bei niedriger Konzentration tatsächlich einen gewissen präventiven Effekt haben, in höherer Dosis aber durch die Bildung von ROS cytotoxisch und damit präventiv gegen Krebserkrankungen wirken.

Die Euphorie über Polyphenole

Polyphenole kommen weit verbreitet in Gemüse, Früchten und Samen vor und gelten als gesundheitsfördernde Substanzen. Tee, Rotwein, Säfte, Kaffee usw. werden unter diesem Aspekt neu eingeschätzt, zumal epidemiologische Studien den gesundheitlichen Wert der Inhaltsstoffe zu bestätigen scheinen. Die regelmäßige Aufnahme dieser Nahrungsmittel wird deshalb von den Ernährungsexperten empfohlen. In der traditionellen Medizin sind Heilkräuter mit Polyphenolen als Inhaltsstoffe fester Bestandteil. Lebensmittel-, Pharma- und Kosmetikfirmen bringen Produkte in Form von Nahrungsergänzungsmitteln, Saftkonzentraten, Salben, Cremes etc. auf den Markt. Auch bei der Entwicklung funktioneller Lebensmittel spielen Extrakte und die Verwendung von Komponenten definierter Struktur eine Rolle. Aber: Es scheint bei zu intensiver Aufnahme von Polyphenolen wegen ihrer oxidativen Wirkung mehr Vorsicht angebracht zu sein, weil der erwünschte Effekt in das Gegenteil verkehrt werden könnte. Fazit: Es gibt bis jetzt keinen Grund, wegen der gesundheitlichen Wirkung von Polyphenolen in Euphorie auszubrechen. Es besteht weiterer Forschungsbedarf vor allem zur Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen Polyphenole ihre präventive, gesundheitsfördernde Wirkung entfalten.

L&M 2 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2011.
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