Darwins Evolutionslehre aus heutiger wissenschaftlicher Sicht
Werner Arber, Prof. emeritus für Molekulare Mikrobiologie
Biozentrum, Universität Basel, Schweiz
Einblicke in die lange Geschichte der Evolution von Lebewesen ergaben sich seit Jahr- hunderten aus dem Vergleich von im Erdboden gefundenen Fossilien von Pflanzen und Tieren untereinander und mit heute lebenden Organismen. Der vor 200 Jahren geborene Charles Darwin basierte seine vor 150 Jahren publizierte Theorie der natürlichen Selektion
einerseits auf den Befunden des Fossilienvergleichs und andererseits auf seinen eigenen Beobachtungen über phänotypische Verschiedenheiten bei den in geographischer Isolation lebenden Angehörigen der gleichen Familie von Organismen. Damals konnte die Wissen-schaft keine Erklärung geben über den Grund phänotypischer Verschiedenheiten. Der Phänotyp, die jeweilige Erscheinungsform der Organismen, schließt alles ein, was unserer Beobachtung und analytischen Messungen zugänglich ist. Vor 150 Jahren war das Konzept des Gens noch nicht geprägt worden. Wenn Darwin von Varianten sprach, bezog er sich auf phänotypische Verschiedenheiten.
In den vergangenen 150 Jahren hat die Wissenschaft gewaltige Fortschritte gemacht. Die Genetik als wissenschaftliche Spezialrichtung wurde eingeführt. Sie entwickelte sich in den letzten 6 Jahrzehnten zur Molekulargenetik, seit wir wissen, dass die vormals abstrakt
definierte Erbinformation in langen Fadenmolekülen, der sogenannten DNA, nieder-geschrieben ist. Wie in unserer geläufigen Schrift, sind in der Erbschrift einzelne Buch- staben linear hintereinander gereiht. Von diesen sogenannten Nukleotiden finden in der DNA nur vier verschiedenartige Gebrauch. Im metaphorischen Vergleich würde die in einem einzelligen Bakterium vorgefundene Erbschrift ein ganzes Buch füllen, die Erbschrift höherer Lebewesen und auch des Menschen eine ganze Bibliothek mit mehreren hundert bis über eintausend Bänden. Bisher identifizierte Gene haben verschiedene Längen und sie ent- halten im Mittel etwa 1.000 Buchstaben, was weniger als einer Buchseite entspricht.
Wir wissen heute, dass das Aussehen eines Organismus, sein Phänotyp, zu einem wesentlichen Teil von der Erbinformation abhängt, zu einem anderen Teil allerdings auch von verschiedenen Umwelteinflüssen, womit wir die mechanistisch noch relativ schlecht verstandene Epigenetik ansprechen. Stabil vererbbare Varianten der Erscheinungsform
gehen in der Regel auf eine Veränderung in der Erbinformation des Lebewesens zurück. Allerdings hat nicht jede Veränderung in der Erbschrift auch eine Veränderung des Phänotyps zur Folge. Dank intensiven genetischen Studien mit Bakterien und mit bakteriellen Viren konnten in den vergangenen Jahrzehnten molekulare Mechanismen der in der Natur spontan erfolgenden genetischen Variation erforscht werden. Dazu kam als neue Methodik die Sequenzanalyse der DNA, die es auch erlaubt, DNA-Sequenzen eng ver- wandter Lebewesen zu vergleichen. Aus all diesen Studien ergibt sich unsere heutige Einsicht in die natürlich erfolgende genetische Variation. Es ist dabei klar geworden,
dass die genetische Variation die treibende Kraft der biologischen Evolution ist. Wäre die Erbinformation in großen Populationen absolut stabil, so könnte man keine biologische Evolution erwarten. Allerdings finden wir in der Natur keine gute Evidenz, dass spontane genetische Variation absolut zielgerichtet erfolgen würde, vielmehr liegen der Variation auch Zufallskomponenten zugrunde. Die von Charles Darwin postulierte natürliche Selektion
definieren wir als ein sich Zurechtfinden der Lebewesen mit den von ihnen vorgefundenen Lebensbedingungen. Diese werden einerseits bestimmt von der unbelebten Umwelt, wie etwa den im Boden und in der Luft vorgefundenen Stoffen und auch der Temperatur. Andererseits beeinflussen die in einem Ökosystem anwesenden Lebewesen durch ihre Aktivitäten oft auch die Lebensbedingungen für andersartige Lebewesen. Daraus ergibt sich,
dass die Richtungen der Evolution, d.h. wie die Zweige am Evolutionsbaum weiter wachsen, durch die Wirkung der Lebensbedingungen auf die Populationen von herkömmlichen Orga- nismen und ihren verfügbaren Varianten bestimmt werden. Schließlich modulieren geo- graphische und reproduktive Isolation den Evolutionsprozess.
Evolutionsstrategien
Die heute verfügbaren Kenntnisse über die spontane Entstehung von genetischen Varianten können wir wie folgt zusammenfassen: Eine Vielzahl von molekularen Mechanismen
trägt, jeder in seiner spezifischen Weise, zur spontan erfolgenden genetischen Variation bei. Diese Mechanismen lassen sich drei natürlichen Strategien zuordnen, wobei jede dieser Strategien qualitativ verschiedenartige Beiträge zur biologischen Evolution leistet.
Lokale Änderung von DNA-Sequenzen
Eine erste Evolutionsstrategie verändert die Erbschrift sehr lokal. Ein Buchstabe kann durch einen anderen ersetzt werden, ein Buchstabe kann ausfallen, ein Buchstabe
kann neu eingefügt werden oder einige benachbarte Buchstaben können in ihrer Reihenfolge versetzt werden. Solche Veränderungen geschehen oft bei der Vermehrung
der DNA, beispielsweise in Abhängigkeit von kurzlebigen isomeren Formen eines Nukleotids oder einer gewissen chemischen Instabilität eines Nukleotids. Zum Glück besitzen die Lebewesen enzymatische Reparatursysteme, welche die Mehrzahl der neu entstehenden lokalen Sequenzveränderungen vermeiden können. Lokale Veränderungen
der DNA-Sequenzen sind Quellen für schrittweise Verbesserung der verfügbaren Erb- information.
DNA-Rekombination
In der zweiten Evolutionsstrategie werden in verschiedenartigen, enzymatisch geleiteten Rekombinationsprozessen DNA-Segmente innerhalb des Erbgutes versetzt, verdoppelt,
entfernt oder umgedreht. Häufig handelt es sich dabei um eine bis wenige Seiten der betroffenen Erbbibliothek. Durch derartige Umstrukturierungen können verfügbare Bereiche von Erbinformation miteinander fusioniert werden, was hin und wieder entweder zu neuartigen Funktionen oder zu einer veränderten Kontrolle der Expression gewisser Gene führen kann.
DNA-Akquisition
In der dritten Evolutionsstrategie schließlich werden kürzere Bereiche der Erbinformation, wiederum einer bis wenigen Seiten entsprechend, von einer Art von Lebewesen auf ein Individuum einer anderen Art übertragen, wobei häufig Viren als natürliche Genvektoren dienen. Ist die so übertragene Erbinformation dem Empfänger nützlich, ohne seine funktionelle Harmonie zu beeinträchtigen, so bedeutet diese DNA Akquisition für ihn
einen wichtigen evolutionären Schritt, basierend auf dem Teilhaben am Erfolg einer langfristigen, evolutionären Entwicklung in andersartigen Lebewesen. Bei allen drei hier summarisch beschriebenen Evolutionsstrategien ist der Erfolg die Ausnahme und nicht die
Regel. Häufig bringt die Veränderung der angestammten Erbinformation einen Nachteil. In der ständig auf Populationen von Lebewesen einwirkenden natürlichen Selektion
führt der so definierte Nachteil früher oder später zum Verschwinden des Trägers der benachteiligenden Erbinformation und seiner allfälligen Nachkommen aus den Mischpopulation der Lebewesen. Daher dürfen alle verschiedenartigen Mechanismen, die zur genetischen Variation Beiträge leisten, ihre mutagene Funktion nur mit sehr tiefen Raten ausüben. Wiederum sind in der Realität zur Erfüllung dieser Forderung sehr verschiedenartige Mechanismen zuständig.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass die unseren Studien zugänglichen Lebewesen befähigt sind, sich nicht nur zu vermehren, sondern auch zur evolutionären Entwicklung
der Populationen eigenständige Beiträge zu leisten. Dazu tragen sowohl Produkte spezifischer Gene als auch intrinsische Eigenschaften der Materie bei. Die darauf basierende biologische Evolution ist ein sehr langsam fortschreitender Prozess und sichert der Mehrzahl der Individuen eine komfortable genetische Stabilität zu. In dem so verstandenen Evolutionsgeschehen hat Charles Darwins Konzept der natürlichen Selektion mitnichten ausgedient. In den vergangenen 150 Jahren haben wir gelernt zu verstehen, warum und wie phänotypische Varianten zustande kommen.
Abbildung: Prinzipien der Evolution
Foto: © Prof. emeritus Werner Arber
Literatur
Die folgenden Überblicksartikel weisen auch auf relevante Originalliteratur hin:
Arber W (2003) Elements for a theory of molecular evolution. Gene 317:3-11
Arber W (2007) Genetic Variation and Molecular Evolution. In: Meyers RA, ed.
Genomics and Genetics, Vol 1. Wiley-VCH, Weinheim, p 385-406
Arber W (2008) Stochastic genetic variations and their role in biological evolution.
In: Arber W, Cabibbo N, Sanches Sorondo M, eds. Predictability in Science:
Accuracy and Limitations, Pontifical Academy of Sciences, Acta 19, Vatican
City, p 126-140
Stichwörter:
Biologie, Evolution, Evoulutionstheorie, Charles Darwin
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L&M 1 / 2009
Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2009.
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