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Bionik - Stabiler Stachel des Seeigels

Meeresfrucht mit Köpfchen

Wie man aus zweifelhaften Billig-Rohstoffen durch clevere Strukturierung zu einem
hochbelastbaren Bauteil gelangt.

Ein Seeigel auf dem Kopf?

Eines ist sicher: Auch der Fahrradhelm der Zukunft wird sicher nicht so aussehen. Doch wir können vom Seeigel – und insbesondere von seinen Stacheln – mehr lernen, als es auf den ersten Blick scheint. Genau diesen Ansatz verfolgt ein von der Landesstiftung Baden-Württemberg gefördertes Projekt der Universität Tübingen in Kooperation mit dem Institut für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf.

Seeigel (Echinoidea) sind eine evolutionär überaus erfolgreiche Tierart: Sie bevölkert seit über 500 Mio. Jahren die Weltmeere und tritt in vielfältigen Formen auf. Am bekanntesten sind eher kleine reguläre Seeigel (kugelförmiger Körper), die sich mit kleinen spitzen Stacheln gegen Fressfeinde und unvorsichtige Strandbesucher schützen. Seeigel sind Bodenbewohner, die den Meeresboden nach Algen abweiden und manche Arten sind auf Riffen und in Brandungszonen bisweilen hohen Wellenenergien ausgesetzt. Insbesondere die von uns untersuchten Lanzen- oder Griffelseeigel haben sich an diese hoch energetischen Umgebungen angepasst und können sich mit ihren großen, stumpfen Stacheln im Riff verkeilen. Fester Halt im Riff ist zugleich eine erfolgreiche Strategie gegen Fressfeinde, die versuchen, an die weniger stachelbewehrte Unterseite des Seeigels zu gelangen.

Der Aufbau solcher Stachel ist das Resultat selektiver Auslese in vielen Millionen Jahren Evolution. Heraus kam ein stoffdurchlässiger Leichtbauwerkstoff, der sehr stabil ist und schädigungstolerantes Verhalten aufweist. Die Permeabilität der porösen Stachel ist für den Seeigel essenziell, da diese kein totes Material sind: Im Porenraum befinden sich organisches Material und Zellen, mit deren Hilfe derer der Stachel wachsen kann und Brüche oder Risse ausgeheilt werden können.

Das Erstaunlichste ist, dass hier Leichtbauweise mit günstigen mechanischen Eigenschaften kombiniert werden konnte, obwohl ein dafür denkbar ungünstiges Material benutzt wird: spröder Calcit (CaCO3), ein für Meeresbewohner einfach verfügbares Baumaterial. Kristallografisch ähneln Seeigelstachel sogar Einkristallen, deren ausgeprägte Spaltbarkeit Calcit den Beinamen „optischer Spat“ gab. Daher: Wie war es dem Seeigel nun möglich, die ungünstigen Brucheigenschaften von Calcit zu umgehen? Und was für Ansätze ergeben sich hieraus für die technische Bauteilentwicklung?

Unter Druck: Der Klügere gibt nach

Für eine Vielzahl von technischen Anwendungen benötigt man stoffdurchlässige und gleichzeitig leichte Bauteile. Im
Laborbereich sind z.B. Fritten oder Filtermaterialien aus Keramik und Glas weit verbreitet. Moderne technische Keramiken sind Seeigelstacheln aus Calcit natürlich in Bezug auf Korrosionsbeständigkeit und Festigkeit weit überlegen. Doch hohe Festigkeit ist nicht alles. Jeder kennt die Wirkung von schlagender Kraft auf konventionelle, poröse Keramiken: Sie brechen nach Erreichen einer kritischen Bruchbelastung meist katastrophal wie die Kaffeetasse, die vom Tisch fällt.
Ganz anders der Seeigelstachel: Wo eine konventionelle Keramik unter Druckbelastung beim ersten Riss bereits komplett zerstört wird, spalten sich beim Seeigelstachel lediglich kleinere Bruchstücke ab und die übrige Struktur bleibt intakt. Diese kann dann weiterhin einwirkende Energien aufnehmen, der Stachelrest bleibt in seiner Funktion erhalten. Zudem: Abgebrochene Bereiche wachsen in der Natur beim Seeigel einfach wieder nach.
Vergleicht man bei gleicher Proben-geometrie (Höhe: 2 cm, Ø 1 cm) nun direkt eine poröse Keramik (beispielsweise aus Aluminiumoxid) mit einem Seeigelstachel, so kann man das Keramikbauteil nur wenige Zehntel eines Millimeters zusammendrücken, ehe es katastrophal bricht. Den Seeigelstachel kann man indes auf fast der gesamten Länge von 2?cm (!) zusammendrücken, ohne dass die resultierende Druckfestigkeit merklich nachlassen würde. Die insgesamt vom Stachel aufgenommene Energie ist dann um ein Vielfaches höher als die des technischen Produktes.
Dieses schädigungstolerante Verhalten von Seeigelstacheln zeigt sich besonders deutlich bei lokaler Belastung, wenn beispielsweise eine Stahlnadel in das Material getrieben wird. Hier kommt es nur entlang des Penetrationspfades zu lokaler Schädigung der Stachelstruktur. Man könnte also problemlos durch solche Seeigelstacheln einen Nagel treiben – was man mit einer Filterkeramik lieber nicht versuchen sollte.
Und auch bei Impaktversuchen zeigen die Stacheln, dass sie hohe Energien absorbieren können. Energieabsorption wird zwar auf Kosten partieller Bauteilzerstörung bewerkstelligt, da jedoch die restliche Struktur weiterhin tragende Aufgaben wahrnehmen kann, muss ein Bauteil nur entsprechend der erwarteten Einschlagenergie groß genug ausgelegt werden – ganz analog zur Knautschzone im Automobilbau.

Das Matroschka-Prinzip der hierarchischen Gliederung

Der Grund für dieses schädigungstolerante Verhalten liegt im hierarchischen Aufbau der Struktur. Man kann die Struktur in drei gestaffelte Hierarchieebenen einteilen. Auf makroskopischer Ebene steht zunächst einmal der Aufbau der Stacheln aus einem porösen Material mit dichteren Schichten. Letztere erinnern an Baumringe und sind in der Tat ineinander gestapelte Wachstumsschichten. Risse laufen bevorzugt entlang dieser Wachstumsschichten und so können sich im Druckversuch schalenartige Segmente abspalten.
Eine Hierarchieebene tiefer (Mikrometer Skala) steht die Porosität selbst. Seeigelstacheln besitzen lokal eine sehr hohe Porosität, die jedoch oft gut strukturiert aufgebaut ist („Stereom“). Hierdurch wird nicht nur Material gespart. Die Struktur verteilt die Spannung gleichmäßig auf die Stege, die wiederum als Sollbruchstellen wirken. Zudem erschweren die Poren die Rissausbreitung durch Rissabstumpfung: Ein Riss, der auf den Hohlraum einer Pore trifft, kann keine Spannungen an seiner Spitze konzentrieren. So muss, um den Riss dennoch weiterzutreiben, die Energie für einen neuen Anriss aufgebracht werden. Nachdem eine Ebene mit Stegen zerstört wurde, steht darunter praktisch das volle Potenzial des Materials erneut zur Verfügung.
Auch auf Nanometer-Ebene zeigen Seeigelstacheln eine Strukturierung. Und genau auf dieser Ebene findet man den Grund, warum die Einkristall-Spaltbarkeit von Calcit kompensiert werden kann. Tatsächlich sind die Stacheln nämlich aus vielen nanoskaligen Einkristall-Domänen aufgebaut, die alle in etwa in dieselbe Richtung orientiert sind, aber durch organische Makromoleküle als eine Art Zement zusammengehalten werden. Dadurch werden auch hier Risse abgelenkt und laufen um die winzigen Domänen herum. Das verbraucht Energie und verhindert Durchbrüche. Dennoch entsteht durch die hochorientierte Verwachsung der Eindruck eines Einkristalls. Durch diesen mosaikartigen Aufbau kann die Spaltbarkeit des Calcits also umgangen werden und zudem können runde Strukturen aufgebaut werden (ein echter Einkristall-Seeigelstachel wäre sicherlich nicht rund).

Das biomimetische Material: keine Kopie

Es ist nicht möglich, diesen komplizierten Aufbau eins zu eins auf künstliche Materialien zu übertragen. Ziel ist es vielmehr, ein Material zu schaffen, das wie bisherige poröse Keramiken leicht und chemisch inert ist, aber gleichzeitig hohe Druckfestigkeiten aufweist, schadenstolerant ist, hohe Energiemengen absorbieren kann und dennoch offen für fluide Phasen bleibt. Atmungsaktiver Schutz ist dabei nur eine denkbare Funktion. Als Filtermaterial eingesetzt, könnten sich durch Beschichten des Porenraums auch noch zusätzliche Eigenschaften in das System einbringen lassen: Man denke nur an die Auskleidung des Porenraums mit katalytisch wirksamen oder sterilisierenden Stoffen.

Auch wenn der Fahrradhelm der Zukunft sicher nicht einem stachelbewährten Seeigel gleichen wird, so steckt vielleicht in der Mikrostruktur des Helmes mehr Seeigel, als man denkt.

Foto: Landesstiftung Baden-Württemberg (
www.zukunftausbw.de)

Stichwörter:
Bionik

L&M 4 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 4 / 2009.
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