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Physik 2015

Neutrinos – Chamäleons des Alls

Wie die Königliche Akademie der Wissenschaften in Stockholm am 6. Oktober dieses Jahres verkündete, teilen sich den diesjährigen Nobelpreis für Physik zwei Wissenschaftler, der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald. Sie beide haben bahnbrechende experimentelle Untersuchungen über Neutrinos durch­geführt und nachgewiesen, dass diese Teilchen während ihres Fluges periodisch ihre Eigenschaften ändern (Neutrino-Oszillationen). Das lässt sich nur erklären, wenn entgegen der bis dahin geltenden Lehrmeinung diese Teilchen nicht masselos sind, sondern eine wenn auch sehr kleine Masse haben.

Super-Kamiokande während der Füllung mit ultrareinem Wasser.

© Kamioka Observatory, ICRR (Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo

Für Mitmenschen, denen die Gesetze der ­Elementarteilchenphysik eher fremd sind, wird die Bedeutung der Arbeiten von Kajita und ­McDonands und die Begründung für die Preisverleihung leer und nichtssagend vorkommen. Deshalb ein kleiner Exkurs. Was sind Neutrinos und was kann man mit ihnen anfangen?

Die frühen Jahre der Neutrino-Forschung

Die Geschichte der Neutrinos beginnt eigentlich schon vor 100 Jahren, als J. Chadwick nachwies, dass das Beta-Spektrum bei Zerfall eines radioaktiven Elements kontinuierlich war – im Gegensatz zum Spektrum der Alpha- oder Gammastrahlung. Dies konnte damals nur erklärt werden dadurch, dass man bei diesem Zerfall die Beteiligung eines weiteres Teilchen nicht sehen konnte oder aber, dass das Gesetz von der Energieerhaltung verletzt wurde. Der österreichische Physiker W. Pauli löste das Geheimnis 1930. Er postulierte, dass beim Betazerfall noch ein weiteres ungelade-nes Teilchen mit einer Masse ähnlich der des Elektrons emittiert wurde, das er Neutron nannte. Pauli war mit seinem Postulat nicht sehr glücklich, denn er schrieb an wissenschaftliche Kollegen, dass sich das von ihm als Erklärung postulierte Teilchen wohl kaum würde messen lassen. Chadwick entdeckte 1932 das neutrale Analogon zum Proton (das wir heute Neutron nennen). Damit musste für das Pauli´sche Teilchen ein neuer Name gefunden werden. Der Italiener E. Fermi wählte aus dem italie-nischen Sprachgebrauch abgeleitet das Wort Neutrino und vermutete, dass dieses Teilchen (ähnlich wie die Lichtteilchen, die Photonen) keine Masse besitzen sollte. Diese Anschauung galt bis zu den Erkenntnissen der diesjährigen Laureaten Kajita und McDonald und deren Teams als herrschende Lehrmeinung.

Entgegen der Vermutung von W. Pauli belegten F. Reines und C. Cowen im Juni 1956, zwei Jahre vor Paulis Tod, dass Neutrinos gemessen werden konnten, zumindest im Prinzip. So weit so gut. Die Lehrmeinung blieb: Neutrinos haben keine Masse und ihre Wechselwirkung mit jeder Art von Materie ist verschwindend gering. Wir werden stündlich von Abermilliarden Neutrinos durchströmt, ohne dass wir davon etwas merken.


Abb.1 Super-Kamiokande detektiert atmosphärische Myon-Neutrinos. Wenn ein Neutrino mit einem Wassermolekül im Tank kollidiert, entsteht ein geladenes Teilchen. Dieses erzeugt Tcherenkow-Strahlung, die von den Photosensoren an der Innenseite des Tanks registriert wird.
(Originalabbildung)

Neutronenjagd am Super-Kamiokande

Doch die Jagd nach den Neutrinos war eröffnet. Man war sich einig darüber, dass es drei unterschiedliche Erscheinungsformen der Neutrinos geben müsste: Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos. Diese Klassifikation wird im englischen Sprachgebrauch als „flavour“ (= Geschmacksrichtung) apostrophiert. Wir wollen hier von unterschiedlichen Typen reden.

Doch nun zu den Laureaten und ihren ­Arbeiten. Wegen der geringen Wechselwirkung von Neutronen mit jeder Form der Materie ­bedarf es überdimensionaler Detek-toren, um überhaupt irgendetwas messen zu können. Beispielhaft sollen hier die Neutronenexperimente am Super-Kamiokande Detektor (siehe Abbildung 1 und 2) in Kamioka, Japan, 250km nordwestlich von Tokio beschrieben werden, für die Takaaki Kajita, der Leiter des Forschungs­zentrums, mit dem diesjährigen Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Mitte der 90er-Jahre hatte man dort in einer alten Zinnmine, 1.000m unter der Erdoberfläche, eine riesige Messanlage installiert, die aus einem 40m hohen Tank mit 50.000t hochreinem Wasser besteht, an dessen Innenseite 11.000 Strahlensensoren angebracht sind. Die Installation so tief unter der Erde war notwendig, um jede Fehlerquelle durch andere Teilchen und Strahlungen auszuschließen. Nur Neutrinos, in diesem Fall sogenannte Myon-Neutrinos konnten bis zum Wassertank vordringen – und das von allen Seiten, auch von der anderen Seite der Erde, mehr als 12.000km durch das Erdinnere. Die weitaus überwiegende Zahl der Myon-Neutrinos passierte den Tank unbemerkt. In sehr sehr seltenen Fällen jedoch kollidierten die Neutrinos mit einem Elementarteilchen des Wassermoleküls und lösten dadurch einen schwachen ­kegelförmigen Lichtblitz (die sogenannte ­Tscherenkow-Strahlung) aus, der von den Lichtsensoren aufgefangen wurde. In den ersten zwei Jahren seit der Inbetriebnahme von Super-Kamiokande wurden etwa 5.000 solche Lichtblitze registriert – also im Mittel sieben pro Tag. Die Auswertung der Lichtblitze erlaubte den Forschern Aussagen darüber zu machen, um welchen Prozess es sich gehandelt hatte und – noch wichtiger – in welcher Richtung sich das auslösende Neutrino bewegt hatte. Die Anlage war nur geeignet, Myon-Neutrinos, die durch kosmische Strahlung in den oberen Schichten der Erdatmosphäre gebildet werden, nachzuweisen. Das Ergebnis der Auswertung war überraschend: Die Zahl der Neutrinos, die von unten den Detektor erreichten, war etwa halb so groß wie die der von oben kommenden Teilchen. Es sollten aber etwa gleich viele sein, denn die kosmische Strahlung ist überall auf der Erde gleich stark. Wo waren die restlichen geblieben? Dass diese irgendwo im Erdinnern hängen geblieben waren, schied als Erklärung aus – viel zu unwahrscheinlich. Die Myon-Neutrinos mussten ihre Eigenschaft (flavour) auf dem langen Weg zum Teil geändert haben und waren zu Tau-Neutrinos geworden. Dieser schon einige Zeit vermutete Prozess, die Neutrino-Oszillation, eine sich periodisch ändernde Eigenschaft der Teilchen war nachgewiesen. Das hatte nachhaltige Konsequenzen: Von der Theorie wurde vorausgesagt, dass eine Neutrino-Oszillation nur stattfinden kann, wenn die Teilchen eine endliche Masse haben. Das bis dahin geltende Konzept der masselosen Neutrinos war gekippt. Wie groß diese Massen der Neutrinos sind, liegt weiter im Dunkeln – sicher mehr als eine Million mal kleiner als die Masse des Elektrons.


Abb.2 Aufbau des Sudbury Neutrino Observatory
(Originalabbildung)

Neutrinos von der Sonne

Die Ergebnisse der Forschergruppe um Takaaki Kajita wurden erstmals 1998 veröffentlicht. Kurz darauf (2001-2002) wurden die Ergebnisse der Gruppe um Arthur B. McDonald vom Sudbury Neutrino Observatory (SNO, siehe Abb.2) in Kanada bekannt. Die Forscher hatten Elektron-Neutrinos, die aus dem Innern der Sonne stam-men, untersucht und festgestellt, dass nur ein Drittel der zu erwarteten Elektron-Neutrinos gemessen werden konnte. Wie schwierig diese Messungen sind, mögen folgende Zahlen belegen: Etwa 60 Milliarden Neutrinos pro Quadratzentimeter erreichen die Erde – von der Sonne kommend – in jeder Sekunde – die SNO-Wissenschaftler konnten in den ersten beiden Jahren des Betriebs lediglich drei Elektron-Neutrinos pro Tag nachweisen. Das SNO hat jedoch eine Besonderheit: Der Kern der Anlage, 2.100m unter der Oberfläche besteht aus einem kugelförmigen Tank, gefüllt mit 1.000t ultrareinem schweren Wasser und 9.500 Lichtdetektoren an den Wänden ausgestattet. Wegen des Deuteriums als Stoßpartner für die Neutrinos konnten zwei unterschiedliche Elementarprozesse registriert werden. Der erste, nur auslösbar durch Elektron-Neutrinos, beruht auf Zerfall des Deuterons in zwei Protonen, der zweite, der durch jedes von den drei Neutrinos ausgelöst werden kann, basiert auf dem Zerfall in ein Proton und ein Neutron. Nun zeigte sich, dass die Zahl der über den zweiten Prozess gemessenen Lichtblitze der zu erwartenden Anzahl entsprach. Die Folgerung: Zwei Drittel der Elektron-Neutrinos hatten auf dem Weg von der Sonne zur Erde ihren Typus geändert und waren zu Myon-Neutrinos oder Tau-Neutrinos geworden. Ein weiterer Beweis für die Neutrino-Oszillationen.


Takaaki Kajita, Japanischer Staatsbürger, wurde 1959 in Higashimatsuyama, Japan geboren. Er promovierte 1986 an der Universität Tokio. Er ist Direktor des Instituts für die Erforschung kosmischer Strahlen und Professor an der Universität von Tokio in Kashiwa, Japan.
Foto: © dpa


Arthur B. McDonald, Kanadischer Staatsbürger, wurde 1943 in Sydney, Kanada geboren. Er promovierte 1969 am California Institute of Technology in Pasadena, USA. Er ist emeritierter Professor an der Queen’s University in Kingston, Kanada.
Foto: © wikipedia.org

Die Tür zu einer neuen Physik

Viele der bisher geltenden Vorstellungen über das, was die Welt im Innern zusammenhält ­(Johann Wolfgang von Goethe, Faust 1), beruhen unter anderem darauf, dass Neutrinos keine Masse besitzen. Mit dem Nachweis der Neu­tronenmasse müssen die Standardtheorien über den Aufbau der Materie neu entwickelt werden. Viele Schlüsselfragen über die Natur der Neu­trinos müssen geklärt werden, bevor eine neue Standardtheorie entwickelt werden kann. Dafür sind neue Experimente notwendig. In Japan arbeitet man bereits im Rahmen einer internationalen Kooperation daran, einen neuen gigantischen Detektor, den Hyper-Kamiokande zu bauen, der in zehn Jahren seine Untersuchungen aufnehmen soll. Hyper-Kamiokande besteht aus zwei zylindrischen Tanks von 48?m Höhe und 250m Länge. Das Volumen ist 20-mal größer als das von Super-Kamiokande und enthält 99000 ultrahoch sensitive Photosensoren, um das schwache Tschenkow-Licht im Wasser zu detektieren. Die Zukunft der Neutronenforschung kann kommen.

Grafiken: © www.nobelprize.org

L&M 9 / 2015

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 9 / 2015.
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