Eine Symbiose aus Kunst und Wissenschaft
Eine Symbiose aus Kunst und Wissenschaft
Es war eine plötzliche Eingebung, die Farbenvielfalt von Mikroorganismen künstlerisch umzusetzen. Inspiriert wurde ich durch eine rote Kolonie eines in der Luft häufigen Bakteriums. Mit der Buntheit von Bakterien bin ich seit meiner Jugend vertraut.
Schon 1872 wurden von Ferdinand Julius Cohn (24.01.1828–25.06.1898), dem Begründer der modernen Bakteriologie und Förderer von Robert Koch, so genannte „chromogene Bakterien“ in den Farben Rot, Violett, Blau, Grün und Gelb beschrieben. Es musste aber erst das Jahr 1999 herannahen, um eine Verbindung zur Kunst herstellen zu können. Damals waren meine Bakterien noch keine Ensemblemitglieder, ich war noch kein Regisseur und der Maluntergrund konnte auch noch nicht zur Bühne avancieren. Die ersten ausgewählten Bakterien waren eben nur Bakterien, aber ihre Farben waren faszinierend. Es folgten einfache Studien, anschließend wurden sie in bildhafter Form ausgeführt, um den künstlerischen Aspekt nicht zu vernachlässigen. Die Vorgangsweise war anfangs noch eher intuitiv, eine systematische Vorgangsweise entwickelte sich im Laufe der Studien.
Es war auch sofort klar, dass das Malen mit Bakterien nicht bloß eine Spielerei sein kann. Das Erste, was aufgefallen ist, war, dass es unmöglich ist, die Organismen so quasi nach Belieben aufzutragen oder auch zu kombinieren. Die hierarchischen Prinzipien mussten genau studiert werden. Die so genannte Interaktionsstudie wurde in der Folge eine sehr komplexe Wissenschaft. Nicht nur Malen, auch Experimentieren ist eine Kunst. Das Experiment darf als Frage an die Natur interpretiert werden. Stellt man das Experiment (die Frage) geschickt an, wird das Ergebnis aussagekräftig ausfallen. Das hört sich einfach an, aber für die richtige Durchführung dieser Interaktionsstudie war sehr viel Wissen, aber noch viel mehr Bauchgefühl erforderlich. Auch die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in bacteriographische Gemälde ist ohne Bauchgefühl gar nicht möglich. Rein rational lässt sich ohnedies nicht alles erfassen, das finde ich auch gut so. Die Bacteriographie-Kunst kann gar nicht auf reiner Verstandesebene aufgebaut werden, sie wäre dann kein Teil der komplexen belebten Natur. Es gibt nun die Bühne, ein umfangreiches Ensemble und sehr ausgefeilte Malmethoden. Die Bacteriographie ist jetzt nicht mehr nur als Malen mit Bakterien zu verstehen, verschmolz sie doch die bildende Kunst mit der darstellenden Kunst. Da die Gemälde nach dem Malen noch unsichtbar sind, fließt, da sich die Gemälde erst „entwickeln“ müssen, noch die Dynamik als zusätzlicher Parameter ein. Zu diesem Paradigmenwechsel nahm Herr Prof. Dr. Michael Heinzel (Firma Henkel) in einem Brief an mich folgendermaßen Stellung (Auszug): „Wichtiger vom Künstlerischen scheint uns aber, dass Sie es durch Einbeziehung der Bildentwicklung erstmals geschafft haben, ein dynamisches Element in die bildende Kunst einzuführen. Das ist wirklich ein epochaler Paradigmenwechsel.“ Die Bühne ist das zentrale Element, um das sich die Bacteriographie dreht. Die Bühne, Bretter, die für den Menschen die Welt bedeuten, bedeutet für meine Minischauspieler in ihrer für sie geschaffenen Form ebenso die Welt. Denn nirgendwo anders hat ein Bakterium die Möglichkeit, seine Multitalente präsentieren zu können.
Die Bühne besteht aus einem speziell vorbehandelten Aquarellpapier, das mit einem Gel beschichtet wird. Diese Gelschicht, die auf neueren Werken ab 2007 mitunter mehrere hundert verschiedene Kompositionen gleichzeitig aufweisen kann, stellt die Appretur dar. Genau genommen ist die Appretur die Bühne, das Papier die Trägerschicht. Doch bilden beide Teile eine Einheit. Auch wenn die Techniken der Bacteriographie nicht zur Gänze preisgegeben werden, die Bacteriographie also nicht total entmystifiziert wird, wird das Interesse an ihr kaum geschmälert sein – es
könnte uns höchstens Theodor Fontane (30.12.1819–20.09.1898) mit „Die Frage bleibt“ in den Sinn kommen:
„ Halte dich still, halte dich stumm, nur nicht forschen, warum? Warum? Nur nicht bittre Fragen tauschen, Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen. Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt, das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.“
Dass zum bacteriographischen Malen ein passender Maluntergrund (Bühne) und ein gut erforschtes und umfangreiches Bakterienensemble erforderlich sind, darf nun als bekannt vorausgesetzt werden. Eine nicht zu unterschätzende Hürde muss auch noch bewältigt werden. Nämlich: bacteriographische Gemälde erhalten den für sie typischen Bildcharakter nur, wenn mit der aufgebrachten Farbe (der Bakterienaufschwemmung) ganz sparsam umgegangen wird. Anders gesagt: Nach dem Malvorgang darf man nicht mehr sehen als vor dem Malen. Bringt man beim Malen bereits so viel Bakterienmasse auf, dass das Gemalte gesehen werden kann, lässt sich weder eine Interaktionsfarbe noch irgendeine Struktur oder Effekt erzielen.
Die mangelnde Kommunikationsfähigkeit seitens der Organismen und der eingeschränkte Freiraum für die weitere Vermehrung verhindert die Entwicklung eines bacteriographischen Gemäldes. Weniger ist also mehr… Das Malen mit „quasi unsichtbaren Farben“ war und ist mit zahlreichen Malstudien verbunden. Ein Ende ist dabei nicht abzusehen. Die Kunst wird zur Wissenschaft und die Wissenschaft zur Kunst. Wissenschaft und Kunst mussten einfach zueinander finden. Johann Wolfang Goethe (28.08.1749–22.03.1832) dazu:
„ Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen – und haben sich, eh man es gedacht, gefunden.“
Die Wissenschaften konnten im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte viele Rätsel zur Entstehung des Lebens lösen, viele Erklärungsmodelle finden und in weiterer Folge bestätigen. Die Kunst kann uns helfen, die sehr komplexen räumlichen Anordnungen der Natur anschaulich zu machen und ein besseres Verstehen so mancher Zusammenhänge zu erleichtern. Biomorphe Strukturen findet man in allen Kunstdisziplinen, z. B. in der Architektur sowie bei Skulpturen und Gemälden. Sie haben dennoch eines gemeinsam: Sie sind das Werk des Menschen. Bei bacteriographischen Gemälden hingegen entstammen die biomorphen Strukturen den Kräften und der „Fantasie“ der Mikrowelt. Sie sind das Werk des bacteriographischen Ensembles! Als Grundlage dienen Aquarell-, Weichzeichner- und invasionstechnische Bühnen. Die Bühnen beinhalten keinerlei strukturgebende Elemente. Bedeutsam ist die Eigeninitiative meiner Ensemblemitglieder, der wir vielfach bei gleicher Ausgangssituation eine wahre Vielfalt an biomorphen Strukturen verdanken. Ein Vergleich mit einem Schöpfungsakt drängt sich auf, denn aus dem Nichts wird „Leben“ geboren. Der bacteriographische Biomorphismus schenkt uns nicht nur vegetabile, faunische und anthropomorphe Gestalten, die an Feen, Geister, Gnome und Homunkuli erinnern, sondern auch an ganze Lebensräume (Biotope). Wir dürfen erneut einem wahren Naturwunder begegnen, das uns ohne bacteriographische Bühnentechnik verborgen bliebe. Die Frage bleibt – es darf uns wieder Theodor Fontane in den Sinn kommen. Es bleibt die Frage, woher das bacteriographische Ensemble dieses „Wissen“ und die Fähigkeit für die Ausbildung von biomorphen Strukturen beziehen konnte. Wolfgang Boesner (Unternehmer und Künstler) schrieb:
„ Ohne geeignetes Material wären die Ideen in den Köpfen der Künstler gefangen“.
Für die Bacteriographie bedeutet das im übertragenen Sinne, dass ohne meine Entdeckung und Umsetzung der bacteriographischen Bühnentechnik alle Fähigkeiten meiner Ensemblemitglieder in ihren Körpern gefangen blieben. Unter den Gegebenheiten der klassischen Bakteriologie hätten sie nämlich keine Möglichkeit, auch nur den geringsten Hinweis auf ihre künstlerischen Fähigkeiten auszusenden. Dass der ganze Werdegang eines bacteriographischen Gemäldes als eine Allegorie des Schauspiels gedeutet werden kann, liegt auf der Hand. Die schönste Allegorie ist – für mich jedenfalls – die Deutung als Allegorie des Lebens:
Noch im Mutterleib: Das Gemälde ist nach dem Malvorgang noch nicht sichtbar.
Geburt: Das Gemälde nach ein paar Stunden – die Farben sind ganz zart und fein.
Säugling, Kind: Das Gemälde nach einem Tag – zarte Farben, die kräftiger werden…
Jugendlicher: Das Gemälde nach weiterer Entwicklung – grelle Farben, die reifen…
Erwachsener: Das Gemälde in seiner fast vollständigen Entwicklung.
Lebensherbst: Das Gemälde gewinnt noch an Aussagekraft, Reife und Strukturvielfalt.
Tod: Das Gemälde nach dem Präparieren. Bei diesem Vorgang stirbt das Ensemble. Die prächtigen Farben bleiben erhalten.
Als Bacteriograph habe ich viel von der Natur gelernt, vor allem Ehrfurcht und Bewunderung. Heute ist das Wegenetz, das mir eröffnet wurde, unendlich groß geworden. Ob ich all diesen Pfaden jemals folgen kann, ist ungewiss. Eines steht fest: Die bacteriographische Forschung ist eine Geschichte ohne absehbares Ende – und das macht sie unwiderstehlich, die Bacteriographie, die multiorganismische Malkunst.
>> erich.schopf@gmx.at
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L&M 1 / 2011
Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2011.
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