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Von der Kunst des Erzählens

Von der Kunst des Erzählens

Narratologie für ­Naturwissenschaftler

„And now for something completely different“. Der bekannte Wahlspruch der Monty Pythons ist eine passende Einführung in diesen für ein naturwissenschaftlich orientiertes Blatt doch etwas ungewöhnlichen Beitrag, der (um ein politisch korrektes Modewort einmal sinnvoll zu benutzen) von sich behauptet, wahrlich interdisziplinär zu sein [1].

Narratologie hat mit Narretei (a priori) nichts zu tun [2]. Narrare (narro, narras, narrat, ... dunkle Erinnerungen kommen bei manchem auf) heißt erzählen; Narratologie somit Erzählwissenschaft, Erzähltheorie, Erzählforschung. Sie ist ein Bestandteil u.a. der Literaturwissenschaften und beschäftigt sich mit der Analyse „erzählender Texte“. Vieles steht auf Wikipedia [3].

Was geht das den Naturwissenschaftler an? (der unter anderem auch im sogenannten Zeitalter der Kommunikation lebt). Wer eine wissen­schaftliche Arbeit verfasst, bemüht sich doch in aller Regel darum, so etwas wie einen „objektiven Bericht“ abzugeben. Ohne in endlose epistemologische Debatten zu versinken, wird man hier aber sicher anmerken können, dass es vielleicht a-priori nicht immer so klar ist, was genau „objek­tiv“ denn nun sei. Dieser Zweifel hat im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zur „narra­tive turn“ [4] genannten Denkweise ge­führt, laut der was als „Wahrheit“ verstanden wird vom Blick des Beobachters abhängt. Akira Kurosawas Film „Rashômon“ von 1950 ist ein erstes und berühmtes Beispiel für diese Sichtweise.

„Was kommt rüber“ (wie es modern wohl heißt) ist für den veröffentlichenden Wissenschaftler aber eher die Frage. „Das Medium ist die Botschaft“ verkündete schon im letzten Jahrhundert der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Marshal McLuhan [5]. Vielleicht doch nicht die ganze Botschaft, hofft der (konser­vative?) Naturwissenschaftler. Immerhin: Wer wüsste besser als labor&more, dass das Medium aber doch sehr wichtig ist. Spätestens seit Tony Blair und seinen berühmt-berüchtigten „spin doctors“ weiß man auch, dass das Publikum (dort die Wählerschaft) stets mit einem „narrative“ zu beschäftigen sei. Manche Kritik ist auch schon daran geübt worden [6] und „storytelling“ als Mittel bezeichnet worden, kritisches Denken aus dem Wege zu räumen und das Publikum einzulullen.

Die Erzählung als Hilfmittel

Was ist ein „narrative“, zu gut Deutsch ein Narrrativ? Standardwerke der Narratologie [7] haben versucht, diesen Begriff im Hinblick auf den natur­wissenschaftlichen Bericht hin abzuklopfen. Dieser Meinung zufolge ist es eine der Aufgaben des Narrativs, einen Bezug zur unmittelbaren Lebenserfahrung des Lesers herzustellen (Tony Blair würde nicht widersprechen). Entsprechend entstehen bei allen Schriften, die sich an ein allgemeines Publikum wenden, Schwierigkeiten mit allem, was nicht der klassischen Physik (Newton) entspringt. So entstanden Einsteins Uhrenparadoxon, Schrödingers Katze und andere mehr oder minder leicht fassbare Gedanken­experimente als Narrative. Alles in Allem wird hier die Erzählung als ein Hilfsmittel verstanden, ähnlich einer Abbildung.

Als (Meta-)Narrativ wird aber auch gedeutet [7], was der Naturwissenschaftler vielleicht als Paradigma, Grundanschauung oder Grundüberzeugung bezeichnen würde. Auf die fundamentale Rolle solcher fundamentaler und nicht hinterfragten Überzeugungen bei der Entwicklung der Naturwissenschaften im Europa des XVI. und XVII. Jahrhunderts, im Gegensatz zum damals stagnierenden China, hat schon Needham [8] in aller Deutlichkeit hingewiesen. Die (komplexe) Frage, was denn heute für Naturwissenschaftler ein solches Meta-Narrativ sein könnte, ob es überall das gleiche ist, usw., wollen wir hier aber außen vor lassen und uns mehr auf „technische“ Aspekte der wissenschaftlichen Narra­tion verlegen. Wir wollen hier auch solche narra­tologische Ansätze außen vor lassen, die auf naturwissenschaftlichen Modellen beruhen und sich beispielsweise mit vielerlei hypothetischen Wirklichkeiten beschäftigen (possible world theory [9]).

Also: Erzählen der NaturwissenschaftlerIn, und wenn ja, wie? Das hängt sehr davon ab, an wen er/sie sich wendet. Fangen wir mit dem Merkspruch eines berühmten englischen Kollegen [10] für die Abfassung eines wissenschaft­lichen Beitrags (in Schrift oder Wort) an: „First you say that you are going to say it, then you say it, and then you say that you have said it“. Ein wissenschaftlicher Beitrag ist also in diesem Sinne selten im üblichen Sinne spannend; wer der Mörder ist, steht bereits im Abstrakt. Das Kunstmittel der Spannung, um das Interesse aufrechtzuerhalten, fällt also schon mal flach.

In den Augen des Narratologen gibt es noch einige weitere Besonderheiten wissenschaftlicher Texte. Unterscheidet man bei literarischen ­Texten üblicherweise den Narrator vom Autor (z.B. den allwissenden Erzähler im Gegensatz zum ahnungslosen Oberkommissar), so ist das hier kaum gegeben. Der Verfasser berichtet über Sachverhalte, denen ein nachprüfbarer Wahrheitsgehalt (nach den Kriterien der jeweiligen Wissenschaft) zugeschrieben werden soll; er steht in gewisser Weise mit seinem guten Namen für diesen Wahrheitsgehalt ein. Also hat man in aller Regel: Narrator=Autor.

Gratwanderung zwischen Dichtung und Wahrheit

Ein wissenschaftlicher Text unterliegt noch ­weiteren Einschränkungen. So soll er dem Ockham‘schen Sparsamkeitsprinzip [11] folgen, präzise und nachvollziehbar sein, und falsifizierbar [12]. Eine daraus folgende Eigenheit ist die systematische Angabe der Quellen, wie wir es hier auch tun. Und bei alle dem soll die Arbeit lesbar und vorzugsweise auch nicht allzu langweilig sein. Der Grat ist eng und wie leicht ist es, in das eine oder das andere Extrem zu fallen. So fällt es immer schwerer, im heutigen Umfeld Studenten den Unterschied zwischen einem wissen­schaftlichen Bericht und einer Werbebroschüre klarzumachen. Wie darf/muss muss man eine „Erzählung“ gestalten, um sie an­sprechend und verständlich zu machen, welche Stilmittel sind erlaubt, und welche nicht. Das sind Fragen, mit denen nicht nur der Student ringt, sondern auch jeder Naturwissenschaftler, der sich (wem auch immer) mitteilen möchte, und nicht zuletzt der Journalist.

Folgt er dem oben beschriebenen Meta-­Narrativ unserer wissenschaftlichen Kultur, so stellt sich der Schreiber eines wissenschaftlichen Textes in die als Fortschritt gedeutete offene Abfolge aller solcher Arbeiten, so wie in den berühmten Hochfenstern im südlichen Querschiff der Kathedrale von Chartres die Evangelisten (als Vertreter der neuen Botschaft) auf den Schultern der Propheten als Vertreter der alten sitzen. Und gerade da finden wir Spannung ­wieder, nicht in einem einzigen Text, sondern übergreifend im noch offenen Meta-Narrativ, in dem sich der Wissenschaftler bewusst befindet.

Die beiden Autoren arbeiten zur Zeit an einer vollständigeren Version dieser Untersuchung, die (hoffentlich) bald in französischer Sprache erscheinen soll.

Literatur

[1] zumindest ein bisschen mehr, als wenn zum Beispiel ein Festkörperphysiker mit einem Festkörperchemiker zusammenarbeitet, was bekanntlich manchmal auch nicht so einfach ist, auch wenn sich beide heutzutage Materialwissenschaftler nennen.
[2] NarrNet, siehe http://www.narratology.net, NarrNetz, siehe http://www.icn.uni-hamburg.de/narrnetz/
[3] http://fr.wikipedia.org/wiki/Narratologie, http://de.wikipedia.org/wiki/Erzähltheorie, http://en.wikipedia.org/wiki/Narratology
[4] siehe z.B. C. Fahrenwald „Der narrative turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012
[5] Herbert Marshall McLuhan (1911 – 1980): „The medium is the message“, in Understanding Media: The Extensions of Man, 1964
[6] Chr. Salmon „Storytelling , La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“, Editons la Découverte 2007 (übersetzt 2010 als „Storytelling: Bewitching the Modern Mind“)
[7] D. Herman, M. Jahn and M.L. Ryan, „Routledge Encyclopedia of Narrative Theory“, Routledge 2005 mit Nachdrucken z.B. bei Taylor & Francis 2007
[8] Joseph Needham, Science and Civilisation in China, The Needham Research Institute, http://www.nri.org.uk/science.html
[9] M.L. Ryan „Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory“, John Wiley & Sons 1992
[10] Prof. Jack Yarwood, Sheffield
[11] Das philosophische Prinzip „Pluralitas non est ponenda sine neccesitate“, Wilhem von Ockham ­(Occam, 1290-1349) zugeschrieben, besagt, ­vereinfacht ausgedrückt, dass wenn ein Argument ­zur Klärung eines Sachverhalts hinreicht, weitere ­Argumente nicht benötigt werden und auch nicht mehr ziehen. Siehe z.B. http://en.wikipedia.org/wiki/Occam‘s_razor
[12] Falsifizierbarkeit, auch empirische Überprüfbarkeit: Theorien müssen widerlegbar sein (Karl Popper).

Bei einer wissenschaftlichen Arbeit: Es müssen dem ­Leser u.a. alle Informationen zur Verfügung gestellt werden, die es ihm, falls er es wünscht, ­ermöglichen würden, die gemachten Behauptungen zu widerlegen.

Bild: © istockphoto.com| drxy,GlobalP, jonathansloane

L&M 7 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 7 / 2014.
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