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Kristalle im Ohr

Gleichgewicht aus Staub gebaut … ganz schön kompliziert!

Unser Innenohr – oder allgemein das Innenohr von Wirbeltieren – ­besteht aus einer komplexen Anordnung von mit Flüssigkeit gefüllten Säckchen und Kanälen, in denen sich die Gehör- und Gleichgewichtsorgane befinden. Die in Abbildung 1 dargestellte Übersicht ist dem erst kürzlich in ­labor & more (8.14) veröffentlichten Artikel von Prof. Dr. Bernd Fritzsch (University of Iowa) über die Bedeutung und Funktion von Haarsinnes­zellen im Innenohr entnommen.

Haarsinneszellen sind in der Lage, mechanische Energie in elektrische Signale umzuwandeln und sind Bestandteile von Sensorsystemen, die Informationen (z.B. an das Gehirn als zentraler Steuereinheit) übermitteln. Diese Verknüpfung spielt beim Gleichgewichtssinn eine wesentliche Rolle und entscheidet letztendlich darüber, ob wir an Schwindelattacken leiden, die der ­Mediziner als „paroxsysmalen Lagerungsschwindel“ bezeichnet. Für derartige Attacken werden Degenerations- oder Alterserscheinungen bei den Rezeptoren der Schwerkraftsensoren (Positio­nen U und S in Abb.1) verantwortlich gemacht.


Abb.1 Membranöses (häutiges) Labyrinth im Innenohr (hier: Maus; aus labor&more 8.14; Beitrag Prof. Fritzsch) mit den Gleichgewichts­organen U und S (Utriculus und Sacculus)

U und S kennzeichnen die sogenannte Maculae, die etwa senkrecht zueinanderstehende Paare bilden und Utriculus (U) bzw. Sacculus (S) genannt werden. Als Rezeptoren (für Bewegungs- oder Beschleunigungsvorgänge) in den Maculae fungieren kleine, als Otokonien (griechisch: Ohrenstaub) bezeichnete Biominerale, die im Hauptbestandteil (> 95 Gew.-%) aus Calcit (der stabilen Form des Calciumcarbonats, Ca[CO3]) bestehen und als Minoritätskomponente Proteine enthalten. Bereits hier soll darauf hingewiesen werden, dass Calcit im Gegensatz zu Apatit (vereinfacht Ca5(OH)[PO4]3), dem anorganischen Hauptbestandteil unserer Knochen und Zähne, sehr anfällig gegen chemische Angriffe ist, wie sie etwa durch chemische Veränderungen in der die Otokonien umgebenden Flüssigkeit (Endolymphe) erfolgen können. Hinzu kommt, dass Biominerale als nanostrukturierte anorganisch-organische Kompositsysteme eine ausgeprägte Mosaikstruktur aufweisen, wodurch chemische Angriffe signi­fikant erleichtert werden. Jede Macula enthält mehrere Tausend Otokonien (s. Vergrößerung S. 27), die über ein Gelkissen mit Haarsinneszellen in Kontakt stehen, sodass Informationen über Lageveränderungen im Otokonienverbund weitergeleitet werden. Die charakteristische Form intakter („gesunder“) Otokonien ist in Abbildung 2 gezeigt. Die mittlere Größe (Länge) variiert zwischen 5µm und 20µm. Otokonien sind bereits einige Tage nach unserer Geburt vollständig ausgebildet und müssen uns in dieser Form und Funktion das ganze Leben begleiten.

Obwohl hier nur Ohrenstaub zur Diskussion steht, ergeben sich essenzielle Fragestellungen, die auf Grundprinzipien der Evolution zurückgehen, die Optimierung von Funktionseinheiten und Funktionsmaterialien in lebenden Systemen. Auf den Punkt gebracht, stellen sich also die Fragen nach Bildung, Struktur, Habitus und Funktionalität.


Abb.2 Menschliche Otokonien (Rasterelektronenmikroskopische
Aufnahmen). a Übersicht; b Detailansicht

… ein glücklicher Zufall!

Wie kommt man als Chemiker zu einem so speziellen Thema? Die Geschichte erstreckt sich zwar über einige Jahrzehnte, ist aber schnell erzählt: erste Kontakte zu Otokonien über ein kleineres Projekt mit der HNO-Klinik an der Universität Düsseldorf im Jahre 1985. Etwa zehn Jahre später Etablierung einer Arbeitsgruppe „Biomineralisation“ an der TU Darmstadt und Beschäftigung mit Flurapatit-Gelatine-Nanokompositen mit dem Ziel, die Bildung von Knochen- und/oder Zahnstrukturen im Laboratorium nachzuahmen. Erweiterung der Thematik auf Carbonat-Apatit (im Jahr 2005 am MPI-CPfS, Dresden), um dem Biosystem chemisch näherzukommen; bei diesen Experimenten (Gegenstromdiffusion in Gelatinegel Matrices) entstand – damals überraschend – in geringer Menge auch ein calcitbasiertes Komposit in der charakteristischen Form von Otokonien (s. Abb. 2). Unerwartet war damit ein persönlicher „Otokonien-Kreis“ geschlossen, der natürlich reizte, näher in Angriff genommen zu werden. Es war allerdings unabdingbar, über medizinische Kompetenz verfügen zu können. Dabei half zunächst Prof. Dr. Dr. h. c. Thomas Zahnert (Universitätsklinikum Dresden); eine besonders enge Zusammenarbeit hat sich schließlich mit Prof. Dr. Leif Erik Walther (Universität ­Heidelberg/Mannheim) etabliert. Am MPI-CPfS in Dresden leitet Jana ­Buder das Laboratorium zur Biomineralisation (s. Abb. 3), das die zentrale Schaltstelle für unsere Otokonien-Forschung bildet.


Abb.3 Otokonien-Forschung am MPI-CPfS in Dresden. Jana Buder mit ­Gegenstromdiffusionszelle (links oben), am Lichtmikroskop (links unten) und am Rasterelektronenmikroskop (rechts)

… vom Zufall zum „Aha“!

Über die umfangreichen Arbeiten, die schließlich zur Erkenntnis führten, dass die Strukturen der „künstlichen“ (biomimetischen) und menschlichen (biogenen) Otokonien identisch sind, kann hier nicht berichtet werden. Einen tieferen Einblick in die besonderen Problemstellungen ermöglichen die Übersichtsartikel [1] und [2] mit entsprechenden Literaturzitaten. Im vorliegenden Beitrag steht das Prinzipielle im Vordergrund.

Die Zufallsbeobachtung, Otokonien im Laboratorium züchten zu können, erwies sich als reiner Glücksfall, bestand damit doch die Möglichkeit, ohne größere Probleme ihre zeitabhängige Formentwicklung zu unter­suchen (s. Abb. 4) und der wesentlichen Frage nach ihrer Bildung näherzukommen: Die Formentwicklung (Morphogenese) verläuft über den ­Zustand eines „Trompetentierchens“ (a in Abb. 4) mit schnell wachsenden „Ärmchen“ (insgesamt sechs) und einem nanostrukturierten, langsamer wachsenden „Bauch“ (b u. c in Abb. 4) zur fertigen Otokonie, deren Oberfläche aus 3+3 sogenannten Rhomboederflächen (60° gegeneinander verdreht), verbunden über einen rundlichen „Bauch“, besteht. Die Röntgenbeugungsmuster von Otokonien sind charakteristisch für Calcit-Einkristalle (s. Abb. 5), woraus folgt, dass ihr Volumen eine 3D-periodische Anordnung der Calcium- und Carbonationen aufweist. Für klassische Einkristalle untypisch sind jedoch gerundete Flächen. Der „Bauch“ der Otokonien und die ebenen Rhomboederflächen lassen sich allerdings mit einem periodischen Aufbau des Otokonienvolumens aus nanoskaligen Calcit-Rhomboedern erklären (s. Abb. 5).


Abb.4 Formentwicklung biomimetischer Otokonien. Rasterelektronen­mikroskopische Aufnahmen. Wachstum durch Gegenstromdiffusion in Gelatine-Gel-Matrix. Entwicklungsdauer etwa eine Woche


Abb.5Lichtmikroskopische Aufnahme einer Otokonie (links oben) mit ­zugehörigem Röntgenbeugungsmuster (MoK, links unten). Schematische Darstellung des Aufbaus einer Otokonie durch 3D-periodische Anordnung rhomboedrischer Nano-Untereinheiten (rechts)

Das anisotrope Wachstum von Otokonien (s. Abb. 4) deutet bereits auf eine besondere innere Architektur, die über schrittweise Auflösung der Calcit-Komponente mit EDTA (Komplexbildung) auch tatsächlich sichtbar ist. Abbildung 6 zeigt, dass der „Bauch“ sehr schnell aufgelöst wird, während die „Ärmchen“ größeren Widerstand leisten. Gleichzeitig wird die Kompositstruktur durch die verbleibende organische Komponente (Proteine) deutlich, die in wässrigem Medium die äußere Form der Otokonie beibehält. Im Rasterelektronenmikroskop erscheint ein Netz aus Fibrillen, das die „oberen und unteren Ärmchen“ miteinander verbindet. Die Bilder lassen vermuten, dass die „Ärmchen“ einen gemeinsamen Berührungspunkt haben. Die Tatsache, dass die biomimetischen Otokonien im Vergleich zu den menschlichen Spezies deutlich größer werden (können), bietet natürlich den Vorteil der einfacheren Handhabung bei allen Untersuchungen. Details zur inneren Architektur in Bezug auf die äußere Form von Otokonien sind in Abbildung 7 zusammengefasst. Das Bruchstück einer partiell angelösten Otokonie zeigt, dass der „Bauch“ eher porös und die „Ärmchen“ eher kompakt strukturiert sind. Damit wird auch das richtungsabhängige Auflösungsverhalten (s. Abb. 6) verständlich. Zusammenfassend: Das Innere von Otokonien besteht aus einer kompakten „Hantel“, die von einem porösen „Bauch“ umgeben ist. Der Evolution ging es also um eine besondere Dichteverteilung und nicht nur um ein homogenes Schwerkraftsteinchen!


Abb.6 Lichtmikroskopische Aufnahme einer biomimetischen Otokonie nach partieller Auflösung der Calcit-Komponente mit EDTA (links). Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer entsprechend behandelten menschlichen Otokonie (rechts)

… kurz zur „Organik“

In Biomineralen als Kompositsystemen ist die organische Komponente in der Minorität, sie übernimmt allerdings wesentliche Funktionen bei Keimbildung, Formentwicklung und Materialeigenschaften. Etwa 3 Gew.-% mit Zuckerseitenketten versehene Faserproteine spielen bei Otokonien die entscheidende Rolle, die allerdings noch nicht vollständig verstanden ist. Sicher ist, dass die Anlagerung von Calciumcarbonat (und hier verfügen wir über atomistische Simulationen [2]) zur Versteifung der Biomakromoleküle führt, und genau das wird auch mit Transmissionselektronenmikroskopie (TEM) beobachtet: Aus Abbildung 8 geht hervor, dass calcifizierte Proteinfibrillen in die kompakten „Ärmchen“ der Otokonien parallel ­zueinander (im Abstand von etwa 25?nm) eingelagert sind. Die Fibrillen stoßen dann senkrecht aus den Rhomboederflächen heraus und bilden die Verknüpfungsfäden zwischen benachbarten Otokonien. Im porösen „Bauchbereich“ sind die Fibrillen als eher ungeordnetes Netz vorhanden (s. Abb. 6). Bleibt noch zu konstatieren, dass Gelatine bis zu 1 Gew.-% kovalent gebundene Saccharide enthält, die bei der Herstellung aus unlöslichem Kollagen nicht abgespalten werden.


Abb.7 Modell der „Hantel/Bauch-Architektur“ einer Otokonie (links) zusammen mit rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen, einer intakten menschlichen Otokonie (Mitte) und dem Fragment einer partiell aufgelösten biomimetischen Otokonie (rechts)


Abb.8 Transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme aus dem „Hantelbereich“ einer biomimetischen Otokonie (a) mit parallel zueinander verlaufenden Fibrillen (Überstruktur, b) sowie Orientierung der Fibrillen im „Hantelbereich“ (c)

… einige Ideen zur Funktion

„Da stelle mer uns mal janz dumm…“, und sammeln einfach alle Beobachtungen zusammen. Jede Macula enthält Tausende von Otokonien, die als „Rasen“ in Kontakt mit einem Gelkissen stehen, in dem sich die Haarsinneszellen befinden. Der Kontakt mit dem Gelkissen wird über Proteinfibrillen hergestellt, die aus den Otokonien herauswachsen, diese untereinander verknüpfen (s. Abb. 9) und insgesamt ein Fibrillennetz ausbilden. So sind die Otokonien in einem Fibrillennetz „gefangen“. Das die Otokonien enthaltende Fibrillennetz wird von einer Flüssigkeit (Endolymphe) stabilisiert, sodass sich das Bild von in der Endolymphe in einem räumlich begrenzten Bereich schwebenden Oto­konien anbietet. Diese Situation gilt für den Ruhezustand. Jede Bewegung des Systems (insbes. Linearbeschleunigungen) führt zu Lageveränderungen im Otokonienrasen, die von den Haarsinneszellen wahrgenommen werden.


Abb.9 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von menschlichen Otokonien, die über Fibrillen miteinander verknüpft sind. Die Otokonien sind altersbedingt degeneriert und weisen Auflösungserscheinungen im „Bauchbereich“ auf.

So weit, so gut …! Welche Bedeutung hat aber die besondere innere Architektur der Otokonien? Zunächst einmal zum „Bauch“, dessen Porensystem mit Endolymphe gefüllt sein wird. Diese Situation erinnert an Wasser­tanks in Schiffen, die der Lagestabilisierung dienen. Dies gilt wohl auch für die Oto­konien, deren ringförmiger „Bauch“ die geringste Dichte im Volumen aufweist. Nun zur spezifisch dichteren, kompakten Hantel: Auf den ersten Blick erscheint es so, als ob der Schwerpunkt der Hantel im Zentrum des Otokonienvolumens liegt. Das bedeutet gleich­zeitig, dass die begrenzenden Rhomboederflächen von gleicher Größe sein müssen, wie das idealisierte Bild in Abbildung 7 (links) auch zeigt. Nach ersten genaueren Untersuchungen sind die Rhomboederflächen an einem Oto­konium aber tatsächlich von unterschiedlicher Größe, und zwar in dem Sinne, dass die Dichteverteilung im Volumen nicht zentrosymmetrisch ist. Wenn also Linearbeschleunigungskräfte auf ein Otokonium wirken, so resultieren Lageveränderungen, die nicht allein einer homogenen trägen Masse entsprechen, sondern zusätzliche Bewegungen beinhalten, die man als „Rütteln im/am Fibrillennetz“ beschreiben kann. Auf diese Weise werden Beschleunigungsvorgänge eines Gesamtsystems (z. B. Mensch) mit optimaler Wirkung auf das die Haarsinneszellen umgebende Gelkissen übertragen.

… Degeneration und Schwindelattacken

Eingangs ist bereits gesagt worden, dass das ­Mineral Calcit (die Hauptkomponente der Otokonien) gegenüber chemischen Angriffen in wässriger Lösung nur geringe Stabilität aufweist. Chemische Veränderungen in der Endolymphe (z. B. als Reaktion auf Entzündungen) sind geeignet, zu An- bzw. Auflösungserscheinungen der Calcit-Komponente zu führen. Diese treten zuerst immer im porösen „Bauchbereich“ auf (s. Abb. 9), und werden, wenn andere Gründe hierfür nicht bekannt sind, als altersbedingte Degeneration beschrieben. So können sich Otokonien (bzw. Fragmente von Otokonien) aus dem Fibrillenverband lösen und in die ebenfalls mit Endolymphe gefüllten Bogengänge des Gleichgewichtsorgans (s. Abb. 1) hineinwandern. Dem Gehirn werden dann widersprüchliche Informationen übermittelt, die zu Schwindelattacken führen. Die verirrten Otokonien lassen sich in manchen Fällen durch bestimmte Kopfbewegungen (hier hilft der Arzt!) wieder in die Maculae zurückbefördern. Die Beschwerden sind dann – zumindest kurzzeitig – behoben.

Man könnte also geneigt sein, der Evolution eine Fehlentwicklung in Bezug auf die anorganische Komponente der Otokonien zuzuschreiben. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass das mittlere Lebensalter des Menschen erst seit neuerer Zeit signifikant steigt. Ein anderer Punkt ist wohl viel schwerwiegender, wenn wir den zunehmenden Einsatz von Pharmazeutika in Betracht ziehen. Hierzu ein Beispiel: Obwohl Aminoglykoside (wie z. B. Gentamicin) als ototoxisch eingestuft sind, werden sie als Antibiotika breit eingesetzt. Die Ototoxizität von Genta­micin wird in erster Linie in Zusammenhang mit dem Verlust von Haarsinneszellen diskutiert. Entscheidender aber ist wohl, dass das Gentamicin-Molekül auf Calciumionen als Komplexbildner wirkt. Tatsächlich verursacht Gentamicin die irreversible Zerstörung von Otokonien durch Auflösung der Calcit-Komponente, wie in Abbildung 10 eindrucksvoll gezeigt ist. …es gibt noch viel zu tun!


Abb.10 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen einer menschlichen Otokonie vor (links oben) und nach 10 min Behandlung mit Gentamicin (rechts unten). Bildsequenz in 2 min-Schritten

Literatur
[1] Kniep, R. et al. (2014) Cryst. Res. Technol. 49, 4–13
[2] Kniep, R. (2015) Pure Appl. Chem. DOL: 10.1515/
pac-2015–0201

Bild: istockphoto.com, urfinguss

L&M 7 / 2015

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 7 / 2015.
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