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Die Bedeutung der Retinsäure im Nervensystem

Die Meisten erinnern sich, dass Mohrrüben gut für die Augen sind und dass dafür Vitamin-A verantwortlich ist. Weniger bekannt: Ein Zuviel des Vitamins kann auch schädlich sein. Für die meisten seiner biologischen Funktionen ist Retinsäure verantwortlich.

Retinsäure entsteht durch Oxidation von Retinol und beeinflusst die Genexpression. Nachdem ihre Bedeutung in der Embryonalentwicklung schon lange bekannt war, hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Retinsäure auch wichtige Funktionen im adulten Nervensystem erfüllt: Dazu gehören Einflüsse auf die synaptische Signalübertragung und die Regulation der physiologischen Reaktionen nach Verletzungen. Außerdem wird eine gestörte Retinsäure-Signaltransduktion bei verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen vermutet. Man untersucht, ob Retinsäure zur Therapie bei Rückenmarksverletzung, Schlaganfall, multipler Sklerose und Demenz dienen kann.

Retinsäure ist die wirksamste Komponente des Vitamins A

Im Jahr 1912 nahm eine australische Expedition zum Südpol ein tragisches Ende. Nachdem ein Hundeschlitten in eine Eisspalte gestürzt war, mussten zwei Überlebende versuchen, sich zum 300 Meilen entfernten Basislager durchzuschlagen. Sie hatten bereits ihre Vorräte aufgebraucht und ernährten sich vom Fleisch der erschöpften Schlittenhunde, die sie nach und nach töteten. Dann erkrankten die Polarforscher selbst: Ihre Haare fielen aus, die Haut löste sich an den Beinen, dann überall vom Körper, die Männer litten an Durchfall und Unterleibschmerzen. Der Schwächere der beiden, der die Leber der Schlittenhunde gegessen hatte, fiel ins Delirium und starb. Douglas Mawson, der Leiter der Expedition, erreichte schließlich ein Proviantlager und konnte gerettet werden. Die Forscher litten nicht nur an Entkräftung und Hunger. Mawson und sein verstorbener Kamerad waren einer Vergiftung zum Opfer gefallen. Dies ist eine der ersten Beschreibungen von Hypervitaminose A. Schlittenhunde und andere fleischfressende Polartiere enthalten große Mengen Vitamin A, das vor allem in der Leber angereichert ist. Vitamin A besteht aus mehreren chemischen Komponenten, nämlich Carotinoiden, Retinol und Retinal. Durch Oxidation bildet der Körper aus diesen die biologisch aktive Retinsäure. Retinsäure steuert die Genexpression über spezifische Rezeptormoleküle, die als ligandenaktivierte Transkriptionsfaktoren wirken (retinoic acid receptors, RAR und retinoid X receptors, RXR). Sie beeinflusst vor allem Zellen, die sich noch teilen und differenzieren, zum Beispiel in der Haut, was viele der beschriebenen Symptome erklärt. Sowohl Mangel als auch Überdosierung an Vitamin A führen zu Entwicklungsstörungen. Wir untersuchen seine Bedeutung bei Schädigungen des adulten Nervensystems.

Vitamin A ist wichtig für Lernen und Gedächtnis

Die Tatsache, dass Retinsäure an Lernprozessen beteiligt ist, wurde in Verhaltensexperimenten mit Vitamin-A-deprivierten Ratten und mit Mäusen entdeckt, denen bestimmte Retinoidrezeptoren fehlten. Diese Tiere zeigten Defizite des räumlichen Gedächtnisses (Morris Water Maze-Test). In einem anderen Versuchsaufbau laufen Ratten vom Zentrum in ein sternförmiges „Labyrinth” mit acht nach außen gerichteten Armen und suchen nach Futter. Um eine Belohnung zu erhalten, müssen sich die Tiere erinnern, ob sie bestimmte Arme bereits abgesucht haben. Auch in diesem Test des Kurzzeitgedächtnisses lernen Vitamin-A-deprivierte Tiere schlechter. Die Lernfähigkeit von Ratten konnte durch Gabe von Vitamin A wieder hergestellt werden [5]. Weitere Versuche mit Mäusen und Ratten haben diese Ergebnisse bes tätigt und darüber hinaus gezeigt, dass lang anhaltende Supplementierung des Futters mit Vitamin A bei Nagetieren das alters bedingte Nachlassen von Kurz- und Langzeitgedächtnis verminderte [6]. Allerdings bedeuten diese Studien nicht, dass die Einnahme von Vitamintabletten bei normal gesunder Ernährung das Gedächtnis fördert. Wie wirkt die Retinsäure auf das Gedächtnis? Es ist hilfreich, zwei Bereiche voneinander zu unterscheiden. Einerseits ist Vitamin A notwendig für die Entwicklung des Gehirns, sodass Mangel ebenso wie Überschuss während der Embryonalent wicklung zu Schädigungen führt. Andererseits hat Retinsäure direkte Wirkungen auf physiologische Veränderungen im Gehirn, die mit Lernen assoziiert sind (LTP, LTD), ebenso wie auf die Ultrastruktur der Synapsen und die lokale Genexpression in Ner venzellendigungen [1]. Retinsäure beeinflusst überdies die Neubildung von Nervenzellen im Hip pocampus. Vitamin A ist notwendig für die Neurogenese und eine kurzzeitige Retinsäuregabe (über drei Tage) bewirkte eine vermehrte Zellproliferation im Hippo campus. Auf der anderen Seite verminderte eine systemische Behandlung mit Retinsäure über einen längeren Zeitraum (sechs Wochen) die Bildung neuer Nervenzellen [7] .
Da Retinsäure im Nervensystem in sehr geringen Konzentrationen vorkommt und es keinen gut funktionierenden Antikörper gibt, ist ihre lokale Verteilung nicht leicht zu messen. Aus diesem Grund bedient man sich transgener Mäuse, bei denen die Expression eines Enzyms von einem durch Retinsäure aktivierbaren Promotor kontrolliert wird. Man kann dann durch eine Farbreaktion im Gewebe sehen, wo das En zym aktiv und also vermutlich Retinsäure vorhanden war. Die Analyse dieser Tiere bestätigt die transkriptionelle Aktivität von Retinsäure im Hippocampus und weist auch auf andere Regionen hin, in denen Retinoide physiologische Funktionen aus üben könnten. Im Nervensystem sind dies unter anderem die Netzhaut, das Rü ckenmark, der Hypothalamus und der Riechkolben. Auch bei anderen Tiergruppen scheint Retinsäure für die Gehirnfunktion wichtig zu sein, zum Beispiel beim Ge sangslernen der Singvögel und, wenigstens in der Entwicklung, bei Mollusken (Lymnaea stagnalis) und Insekten (Locusta migratoria).

Mögliche therapeutische Anwendungen bei neurologischen Erkrankungen

Nach der Entdeckung der Retinsäurerezeptoren 1987 wurde diese Substanz weit über das Feld der Lebensmittelchemie hinaus interessant. Viele Labore untersuchten sie bald in allerlei Zellkulturen. Dabei zeigte sich eine entzündungshemmende Wirkung auch für das Nervensystem. Außerdem stellte sich heraus, dass Retinsäure das Neuritenwachstum verschiedener Nervenzellen fördert. Aufgrund der Verfügbarkeit von Pharmaka, mit denen die Rezeptoren aktiviert werden können, versuchte man bald, in Tierversuchen die Degeneration von Nervenzellen bei Ischämie (Schlaganfall), Rückenmarksverletzung, Alzheimerscher Demenz, multipler Sklerose und amyotropher Lateralsklerose aufzuhalten oder zu vermindern [7]. Die Aktivierung dieser Kernrezeptoren in einer so breiten Palette neurodegenerativer Pathologien war vor allem wegen des breiten anti-inflammatorischen Effekts viel versprechend. Hier wirkt Retinsäure nicht auf die Neurone selbst, sondern auf Zellen des Immunsystems und Gliazellen. Bei Erkrankungen, in denen die isolierende Myelinhülle um die Nervenfasern angegriffen wird, vor allem multiple Sklerose, ist es wichtig, die Neubildung von Myelin durch Oligodendrozyten zu fördern. Dies scheint durch Aktivierung des mit den Retinsäurerezeptoren verwandten RXR möglich zu sein [3].
Bei Rückenmarksverletzung konnte durch Aktivierung des Rezeptors RAR das axonale Wachstum im Rückenmark gefördert werden. Dies stellt eine große Heraus forderung dar, weil verschiedene Inhibitoren im ZNS die Nervenregeneration verhindern. In Tierversuchen gelang es, therapeutische Effekte bei der Rückgewinnung der motorischen Funktionen zu erzielen. Aus den oben angesprochenen Wirkungen im Zusammenhang mit Lernprozessen folgten natürlich Studien mit Tiermodellen der Alzheimerschen Demenz. Eine wichtige neuere Untersuchung zeigt, dass RAR die Expression des Enzyms a-Sekretase verstärkt, womit die Bildung der für diese Krankheit charakteristischen Plaques verhindert wird.

Endogene Beteiligung von Retinsäure bei Pathologien des Nervensystems

Trotz dieser therapeutischen Anwendungen ist kaum untersucht worden, welche Funktionen körpereigene Retinsäuresignale bei Erkrankungen des Nervensystems haben. Dies ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern auch, weil dieses Wissen zu Heilungsstrategien führen kann, die die natürlichen körpereignen Schutzmechanismen unterstützen. Meine Arbeitsgruppe hat dies mit Tiermodellen für Rückenmarksverletzung, periphere Nervenregeneration und multiple Sklerose untersucht [4, 7]. Nach Rückenmarksverletzungen an tief anästhesierten Ratten fanden wir eine signifikante Zunahme der lokalen Retinsäuresynthese durch Zellen der Hirnhäute sowie einer bestimmten Population von Glia (NG2-positive Zellen). Neben Nervenzellen reagieren Makrophagen und Astrozyten auf das Retinsäuresignal und wir vermuten, dass dies Teil eines Entzündungshemmenden Rückkopplungsmechanismus ist. Die Regeneration peripherer Nerven untersucht man häufig am Ischiasnerv von Ratten und Mäusen. Mithilfe der transgenen „Retinsäure-Reportermaus“ fanden wir spezifische Aktivität von Retinsäure, die mit der axonalen Regeneration assoziiert ist (Abb. 1). In einem Tiermodell zur Untersuchung der Demyelinisierung zeigte sich eine Zunahme von RXR in Astrozyten, die vermutlich mit protektiven Mechanismen in Verbindung steht (Abb. 2). Pathologische Veränderungen der Retinsäuresignaltransduktion wurden auch im Gewebe von Patienten gefunden, die an neurodegenerativen Erkrankungen gelitten haben (Alzheimer, Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose). Es gibt indirekte Hinweise für die Beteiligung von Retinsäure an psychiatrischen Erkrankungen (Schizophrenie, Autismus). Aufgrund von Fallbeschreibungen wurde in den 1990er-Jahren vermutet, dass anhaltende systemische Medikation mit Retinsäure, die zur Aknetherapie eingesetzt wird, klinische Depression auslöst. Diese Hypothese wird allerdings kontrovers diskutiert, und es gibt widersprechende klinische Studien [7].

Schlussbemerkung

Nachdem Retinsäure zunächst als Faktor in der Embryonalentwicklung betrachtet wurde, untersucht man sie heute bei einer Vielzahl physiologischer Prozesse im adulten Nervensystem. Dabei stehen therapeutische Fragestellungen im Vordergrund, vor allem deshalb, weil die Forschungsförderung in diese Richtung gelenkt wird. Neben neuroprotektiven und regenerationsfördernden Wirkungen beeinflusst Retinsäure aber auch die nicht-pathologische Signalübertragung zwischen Nervenzellen, zum Beispiel bei Lernvorgängen im Hippocampus und in der Netzhaut.

Literatur
[1] Chen and Napoli, FASEB J. 22 (2008): 236-245.
[2] Donmez et al., Cell 142 (2010): 320-33.
[3] Huang et al., Nat. Neurosci. 14 (2011): 45-53.
[4] König et al., J. Chem. Neuroanat. 43 (2012): in press.
[5] Mey und McCaffery, Neuroscientist 10 (2004): 409-421.
[6] Mingaud et al., J. Neurosci. 28 (2008): 279-01.
[7] van Neerven et al., Progr. Neurobiol. 85 (2008) 433-451.

Foto: © Prof. Dr. Jörg Mey

L&M 2 / 2012

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2012.
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