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Geliehene Gene

Geliehene Gene

Vielfalt und Evolution darmpathogener Escherichia coli und ­Herausforderungen an deren Nachweis in Lebensmitteln

Seit dem EHEC O104 Ausbruch, der im Sommer 2011 in Deutschland über­raschend auftrat und 4000 Menschen zum großen Teil sehr schwer erkrankten, sind durch Lebensmittel übertragbare E. coli-Infektionen mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Woher kommen diese Krankheitserreger und wie entstehen sie? Da harmlose E.coli als Bestandteil der Darmflora faktisch überall zu finden sind, steht die Diagnostik der darmpathogenen <i>E. coli</i> vor erheblichen Herausforderungen, die nur mit modernen genetischen Methoden zu bewerkstelligen sind.

Colibakterien (Escherichia coli) sind natürliche Darmbewohner des Menschen und der warmblütigen Tiere. Als Bestandteil der Darmflora nehmen sie vielfältige Funktionen wahr, beispiels­weise bei der Stimulierung des Wirtsimmun­systems schon unmittelbar nach der Geburt. Da Colibakterien von ihren Wirten regelmäßig mit dem Kot ausgeschieden werden, gelten sie als Indikator für fäkale Verschmutzung von Wasser, Boden und nicht zuletzt von Lebensmitteln.

Escherichia coli: ein Allroundgenie ­unter den Bakterien

Escherichia coli ist ein Organismus mit vielen Gesichtern, der sich durch eine enorme genetische Vielfalt ausgezeichnet. Neben dem Basis (Core)-Genom, das für allgemeine Funktionen des Stoffwechsels und der Vermehrung der Bakterien verantwortlich und bei allen Colibakterien vorhanden ist, liegen bei den verschiedenen Vertretern dieser Bakterien zudem noch sehr unterschiedliche Determinanten als genetische Inseln im Bakterienchromosom und als extrachromo­somale Elemente auf Plasmiden vor. Zusätzliche genetische Elemente können bis zu einem Drittel der gesamten genetischen Information des Bakteriums ausmachen [1]. Diese genetischen Determi­nanten können unter anderem auch für Virulenz­eigenschaften codieren, die aus dem harmlosen Darmbewohner einen gefährlichen Krankheitserreger machen. Solche zusätzlichen Eigenschaften sind häufig „Gen-Anleihen“ aus anderen bakteriellen Spezies und aus Bakterien­viren (wie beispielsweise das Shiga-Toxin-Gen übertragende Bakteriophagen bei EHEC). Diese werden in einem Prozess, der als hori­zontaler Gentransfer bezeichnet wird, auf die E. coli-Bakterien übertragen. Auf diese Weise entwickelten sich aus dem kommensalen Darmkeim E. coli im Verlauf der Evolution unterschiedliche Pathovare der gleichen Spezies, die als Erreger von extraintes­tinalen (Harnwegsinfektionen, Sepsis, Meningitis) und intestinalen Infektionen (Durchfall, Dysenterie) eine im Gesundheitswesen wichtige Rolle spielen. Bei extraintestinalen Infektionen mit uropathogenen E. coli (UPEC) handelt es sich häufig um endogene Erreger aus der eigenen Darmflora beziehungsweise um eine Übertragung von infizierten auf nicht infizierte Menschen. Jedoch wird die Übertragung von UPEC durch Verzehr kontaminierter Lebensmittel neuerdings ernsthaft diskutiert [2]. Hervorstechendes Merkmal der extraintestinalen E. coli sind Eigenschaften, die es den Bakterien ermöglichen, im Wirts­organismus außerhalb des Darmtrakts zu überleben. Hierfür muss die Immunabwehr des Wirtes blockiert werden. Naturgemäß gehören Risikopatienten aus der Gruppe der YOPI (WHO Definition für young <5 Jahre, old >65 Jahre, pregnant and immunocompromised) in erster Line dazu. Durch Organinfektionen (Blase, Niere, Lunge) und hämatogene Streuung (Sepsis, Meningitis) können aus UPEC-Infektionen schwere ­lebensbedrohliche Krankheitsbilder ent­stehen. Ein großes Problem ist die zunehmende Resistenzentwicklung, die bei den UPEC beobachtet wird. Bei Infektionen mit darmpathogenen E. coli steht die Übertragung durch konta­mi­nierte Lebensmittel in erster Linie. Weitere wichtige Übertragungswege sind Kontakte mit infizierten Menschen und Tieren (Schmier­infektion) sowie mit einer fäkal kontaminierten Umwelt (Boden, Wasser, Gegenstände).

Charakteristika und Typenvielfalt der darmpathogenen E. coli

Die Hauptschwierigkeit bei der Diagnostik von Infektionen mit darmpathogenen E. coli liegt darin, dass im Untersuchungsmaterial „Stuhl“ neben dem Erreger auch kommensale E. coli aus der natürlichen Darmflora vorliegen. Deshalb ist der Nachweis von darmpathogenen E. coli im Vergleich zu Salmonellen, die kein Bestandteil der natürlichen Darmflora des Menschen darstellen, wesentlich schwieriger, da er über den ­reinen Speziesnachweis hinausgehen muss. Zudem handelt es sich bei der Gruppe der darmpathogenen E. coli um ein breites Spektrum von Keimen, die verschiedene Pathogenitätsfaktoren ausprägen, sich jedoch morpho­logisch und in ihren Stoffwechselleistungen kaum untereinander und von den kommensalen E. coli der Darmflora unterscheiden. Ähnliche Verhältnisse liegen bei der Untersuchung von Umweltproben (Wasser, Boden) und von unerhitzten Lebensmitteln­ pflanzlichen und tierischen Ursprungs vor, die ebenfalls ein großes Gemisch an apathogenen und auch humanpathogenen Bakterien enthalten können. Aus diesem Grund müssen für die Lebensmittelüberwachung genauso wie für die Diagnostik einer Infektion bei Patienten die spezifischen Virulenz­faktoren, die Vertreter der einzelnen darmpathogenen Gruppen von E. coli charakteri­- sieren, nachgewiesen werden. Mittlerweile unterscheidet man sechs Hauptgruppen darmpathogener E. coli, die sich durch unter­schiedliche Virulenzmerkmale und Pathomechanismen auszeichnen (Tab. 1).

Moderne genetische ­Nachweisverfahren

Konnte man in der vorgenomischen Ära auf der Basis der serologischen Zugehörigkeit eines E. coli Isolats nur Vermutungen zum Krankheitsbezug stellen, werden heutzutage Virulenzfaktoren, die hauptverantwortlich für den Krankheitsprozess sind, gezielt nachgewiesen (Tab. 1). In den letzten Jahrzehnten wurde die genetische Grundlage der Bakterien, die für ihre krankheitsauslösenden Eigenschaften verantwortlich ist, immer weiter entschlüsselt. Durch moderne Methoden der Genomsequenzierung wurde es möglich, die gesamte DNA-­Sequenz eines Bakterienisolats in relativ kurzer Zeit zu ermitteln, wodurch pathogene und nichtpathogene Vertreter ein und derselben Spezies miteinander verglichen werden können. Die genetischen Abweichungen zwischen den einzelnen Vertretern von E. coli sind enorm. Ein apathogener E. coli K-12, ein EHEC und ein UPEC besitzen nur 39,2% Gemeinsamkeit auf der Ebene der von ihnen gebildeten Proteine [3]. Aus der durch die komplette Genom­sequenzierung entstehenden Datenmenge (das Genom von EHEC O157:H7 umfasst 5,4 Mio. Basenpaare) müssen die diagnostisch relevanten Genabschnitte erkannt und entsprechende genetische Sonden für deren Nachweis entwickelt werden. Dies erfordert den Einsatz von leistungsfähigen ­Computern und ebensolcher Software, mit ­denen entsprechende Informationen aus einer großen Datenmenge selektiv herausgezogen werden können. Der Nachweis der Virulenzgene erfolgt entweder durch Hybridisierung (DNA-Chip-Technologie, Micro­array-Systeme) oder durch Real-Time-PCR-Verfahren, wobei in beiden Verfahren ein zunehmender Trend zur Automatisierung stattfindet, der die Untersuchung von immer mehr Merkmalen an einer immer größeren Anzahl von Proben ermöglicht. Das ist gerade bei der Erkennung von pathogenen E. coli erforderlich, da häufig erst die Kombination mehrerer Merkmale in ein und demselben Bakterium von diagnostischer Bedeutung ist und im Untersuchungsmaterial überwiegend Keimgemische vorliegen. Moderne genetische Verfahren werden daher sowohl in der Lebensmitteluntersuchung als auch in der medizinischen Dia­gnostik zunehmend eingesetzt. Nur so kann ein eindeutiges Ergebnis erzielt werden, das durch die Schnelligkeit der Analyse und der Befund­erhebung noch genug Zeit zur Einleitung von Präventions- und Gegenmaßnahmen lässt.

Lebensmittelassoziierte ­Infektionen

Schnelle Erkennung von Ausbrüchen am Beispiel des EHEC O104-Ausbruchs im Sommer 2011:

Die Leistungsfähigkeit moderner genetischer Methoden bei der Aufklärung von lebens­mittel­assoziierten Erkrankungen wurde der breiten Öffent­lichkeit erstmalig während der im Sommer 2011 grassierenden Epidemie mit EHEC O104 deutlich. Im Zeitraum von zwei Monaten erkrankten allein in Deutschland fast 4000 Menschen überwiegend sehr schwer, mehr als 800 Fälle von Nierenschäden (HUS) waren zu verzeichnen und 53 Patienten fielen der Seuche zum Opfer [4]. Durch moderne Verfahren der Genomsequenzierung konnten die während der Epidemie isolierten EHEC O104-Erreger schnell als eine neuartige EHEC-Variante identifiziert werden, die Viru­lenzeigenschaften sowohl der EAEC als und der EHEC trägt und damit für eine besonders aggressive Form eines E. coli-Krankheitserregers steht. Eine Weltpremiere war die sehr zeitnahe Veröffentlichung von genomischen Sequenzen des Erregers im Internet, die in einer Art Schneeballeffekt eine Beschleunigung der Untersuchungen und der Erzeugung von immer mehr erregerbezogenen Daten zufolge hatte (http://blogs.nature.com/news/2011/06/the_german_e_coli_outbreak_40.html). Somit konnten in extrem kurzer Zeit der Erreger in seinen wesentlichen pathogenetischen Eigenschaften charakterisiert und entsprechende Nachweisverfahren entwickelt und eingesetzt werden. Nicht zuletzt dadurch konnten kleinere, so genannte Satellitenaus­brüche, die in mehreren Teilen Deutschlands und in Frank­reich stattfanden, als solche schnell erkannt werden.



Abb.1 Rinder und andere Wiederkäuer sind natürliche Träger einer enor­men Vielfalt von Shiga-Toxin produzierenden E. coli (STEC) als Bestandteil ihrer normalen Darmflora. Nicht alle STEC aus den Tieren sind humanpathogen, aber STEC können auch als Quelle von neuartigen Stx-Phagen dienen, die in der Lage sind neue bakterielle Wirte zu befallen und neuartige Krankheitserreger entstehen zu lassen.



Abb.2 Typenvielfalt bei E. coli Bakteriophagen, von denen manche auch Stx-Gene tragen und übertragen können.
Aufnahme Dr. Jochen Reetz, BfR



Abb.3 Infektion eines Stx-negativen E. coli mit Stx2-Phagen. Das Ergebnis kann die Entstehung eines neuartigen Krankheitserregers sein.
Aufnahme Dr. Jochen Reetz, BfR

Neuartige Krankheitserreger

Molekulare Untersuchungen zur Epidemiologie und zur Entstehung am Beispiel von EHEC O104:

Die vorliegenden genetischen Informationen über den EHEC O104:H4-Erreger leisteten gute Dienste bei der Aufklärung von Infektketten (Vergleich der Ähnlichkeit auf genomischer ­Ebene). Aus den Untersuchungen ergaben sich enge ­Gemeinsamkeiten zwischen EHEC O104:H4-Stämmen aus Patienten, die bereits im Jahre 2001 in Deutschland, 2006 in Norwegen und 2009 in Georgien isoliert worden waren, mit dem 2011 in Deutschland erneut auftretenden Typ [5, 6]. Veränderungen bei den Isolaten betrafen hauptsächlich Plasmide als extrachromosomale Elemente, die für Enterotoxinbildung, Resistenz gegen Antibiotika und bakterielle Anheftungsfaktoren (Fimbrien) stehen. Epidemiologische Unter­suchungen an EHEC O104:H4-Stämmen, die 2011 in Deutschland und Frankreich isoliert worden waren, deuteten auf eine gemeinsame Herkunft aus in Ägypten produzierten Bockshornkleesamen, die für die Sprossenproduktion in Deutschland und Frankreich eingesetzt worden waren (EFSA). Allerdings konnten aus keiner der untersuchten Samenchargen EHEC isoliert werden. Frühere Untersuchungen über das Vorkommen von EHEC O104:H4 wiesen auf einen möglichen Ursprung dieser Erreger in Zentralafrika. Untersuchungen aus dem Labor des Verfassers konnten zeigen, dass die bei EHEC O104:H4 vorkommenden Shiga-Toxin 2 (Stx2)-Phagenvariante ungewöhnliche Eigenschaften aufweist [7]. Eben diese Stx2-Phagenvariante wurde bei STEC aus Rindern in Deutschland gefunden und konnte experimentell auf EAEC O104:H4-Stämme übertragen werden (Abb. 1?–?3). Somit wurde das zuvor postulierte Entstehen der hochvirulenten EHEC O104-Erreger durch Phagentransduktion auch experimentell bestätigt. Epidemien durch neuartige, hochpathogene E. coli-Stämme wie EHEC O104 müssen daher nicht zwingend von außen eingeschleppt werden, sondern sind aufgrund des endemischen Vorkommens der Erreger beziehungsweise der entsprechenden Stx2-Phagen und deren Wirtsstämme auch in Deutschland und Europa möglich. l

Literatur
[1] Hayashi, T. et al. (2001), DNA Res. 2001 Feb 28; 8(1), 11–22
[2] Nordstrom, L. et al. (2013), Front Microbiol., Epub 2013 Mar 6
[3] Kaper, J.B. et al. (2004), Nat Rev Microbiol., 2004 Feb; 2(2), 123–40
[4] Robert Koch-Institut, Abschließende Darstellung und Bewertung der epidemiologischen Erkenntnisse im EHEC O104:H4 Ausbruch in Deutschland 2011, Robert Koch-Institut, September 2011 Im Internet verfügbar unter www.rki.de
[5] Miko, A. et al. (2013), Int J Med Microbiol., 2013 May 28
[6] Ahmed, S. et al. (2012), PLoS One, 7(11)
[7] Beutin L., et al. (2012), J Virol. Oct; 86 (19), 10444–55

Foto: © istockphoto.com| Ivan Mateev

L&M 7 / 2013

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 7 / 2013.
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