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Mit NCATs auf der Spur neusynthetisierter Proteome in Nervenzellen

Mit NCATs auf der Spur neusynthetisierter Proteome in Nervenzellen

Metabolische ­Proteinmarkierung

Zellen lebender Organismen sind durch ständige, hochkomplexe Veränderungen ­ihrer molekularen Komposition charakterisiert. Damit sichern sie einerseits ihre ­vitalen Grundfunktionen und reagieren andererseits auf Veränderungen des sie ­umgebenden Milieus. Die wohl größte Leistung in diesem Zusammenhang wird durch die Zellen unseres Nervensystems realisiert. Durch ihre außerordentliche Spezialisierung ermöglichen sie nicht nur die Aufnahme, Weiterleitung und ­Verarbeitung von Reizen in Bruchteilen einer Sekunde, sondern sind darüber hinaus für lebenslanges Lernen und die Gedächtnisbildung verantwortlich.

Diese Leistungen erfordern neben anderen mole­kularen Veränderungen sowohl die Neusynthese von Proteinen als auch deren ständige Modifikation und schließlich ihren gerichteten Abbau. Die räumliche und zeitliche Erfassung dieser komplexen Prozesse ist für Wissenschaftler unter­schiedlichster Disziplinen eine besondere Herausforderung.

Bioorthogonale Moleküle, chemische Reporter, „Klick-Chemie“ und Co.

Die Erforschung von Biomolekülen in vivo ist aufgrund der Komplexität zellulärer Systeme eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe und hat bereits in der Vergangenheit Biologen, Chemiker und Physiker gleichermaßen zur stetigen Entwicklung und Verbesserung neuer Methoden motiviert. Ein Ergebnis ihrer gemeinsamen Bemühungen war beispielsweise die Entdeckung und Anwendung des genetisch kodierten, grün fluores­zierenden Proteins (GFP), dessen Bedeutung 2008 mit dem Nobelpreis für Chemie gewürdigt wurde. Seit seiner Einführung 1994 als molekulares Werkzeug [1,2] konnte für zahlreiche Proteine deren zeitabhängige Lokalisierung in Zellen und Geweben bestimmt und spezifischen Funktionen zugewiesen werden. Doch unbenommen dieser vielseitigen Möglichkeiten ist die Anwendung des GFP als Visualisie­rungshilfe begrenzt. Mit einer Länge von 240 ­Aminosäuren kann es zu räumlich bedingten ­Konformationsänderungen aufseiten des zu beobachteten Proteins mit weit reichenden Konsequenzen für dessen Faltung, Transport und Funktion beitragen. Um diese Problematik zu lösen, sind in der Folgezeit verschiedenste Peptidmarker entwickelt worden, die das Repertoire an Proteinen, die in zellulären Systemen untersucht werden können, ständig erweitert hat. Voraussetzungen dafür wie auch für das GFP sind deren genetische Verschlüsselung und die Nutzung der Translationsmaschinerie in den zu beobachtenden Zellen. Allerdings schließt die erforderliche genetische Kodierung eine Markierung und nachfolgende Analyse anderer Biomoleküle wie Nukleinsäuren, Lipide, Glykane sowie verschiedene Metaboliten aus. Diese gravierende Einschränkung – zusammen mit der Tatsache, dass mittels dieser Methoden nur einzelne oder wenige Proteine erfasst werden können – hat in jüngster Vergangenheit die ­Suche nach alternativen Methoden vorangetrieben und zur Entwicklung einer Vielzahl kleinerer, nichtkanonischer Moleküle mit spezifischen chemischen und biophysikalischen Eigenschaften geführt. Mithilfe dieser so genannten chemischen Reporter können neben Aminosäuren auch oben genannte Gruppen von Biomolekülen selektiv metabolisch markiert und mittels ihrer funktionellen Reste spezifisch weiter prozessiert werden. Carolyn R. Bertozzi führte 2004 für diese Methode den Begriff bioorthogonale Chemie ein [3]. Er umfasst jede Art chemischer Reak­tionen in lebenden Systemen, die die natür­lichen biochemischen Prozesse nicht beeinflussen. Daraus resultierend müssen bioorthogonale Substanzen über folgende Eigenschaften ver­fügen: 1. Selektivität in Bezug auf endogene funktionelle Gruppen; 2. biologisch innert gegen­über endogenen biochemischen Prozessen; 3. chemisch innert gegenüber biologischen Prozessen; 4. eine schnelle Reaktionskinetik, die kompetitive Reaktionen und ein schnelles Auswaschen der Komponenten verhindert; 5. Biokompatibilität (nicht toxisch, funktionell unter physiologischen Bedingungen); 6. einfache Inkorporationsmöglichkeit, meist über metabolische Prozesse. Eine der leistungsfähigsten chemischen Reportergruppen ist das organische Azid (-N3), das, bereits 2000 von Saxon und Bertozzi an synthetische Zucker gekoppelt ­(Azido-Zucker), zur Untersuchung von Glyko-Konjugaten der extrazellulären Matrix verwendet und mittels der biokompatiblen „Staudinger-­Ligations-Reaktion“ mit einem komplementären, an eine Sonde gekoppelten Triphenylphosphan umgesetzt wurde [4]. Eine weitere Reaktionsmöglichkeit des Azids ist seine Beteiligung als reaktives 1,3-Dipolmolekül an einer [3+2]-Zyklo­addition mit Alkenen und Alkinen. Diese normalerweise unter hohen Temperaturen bzw. hohen Drücken ablaufende Reaktion kann sehr effizient mithilfe spezieller Liganden und durch Kupfer(I) katalysiert in einem biochemischen Labor durchgeführt werden. Aufgrund ihrer Effi­zienz, Einfachheit und Selektivität wird diese Reaktion auch als „Klick-Chemie“ bezeichnet und ist zentrales Werkzeug unserer eigenen Forschungstätigkeit.



Nichtkanonische Aminosäuren, die für die Markierung von Proteinen verwendet werden, weisen eine funktionelle Gruppe in der Seitenkette auf wie beispielsweise die Azidogruppe (in Rot) des Azidohomoalanin (AHA). Da sich die chemischen Strukturen von Methionin (Met) und der nichtkanonischen Aminosäure AHA nur wenig unterscheiden, verhält sich AHA ähnlich wie Methionin im Stoffwechsel der Zelle. So erfolgt die Aufnahme von AHA in die Zelle über Aminosäuretransporter. Das Enzym Methionyl-tRNA Synthetase bindet AHA und katalysiert die Verknüpfung mit der tRNA, die für den Einbau von Methionin in neu- synthetisierte Proteine zuständig ist. So vorbereitet, kann AHA über die Bindung der Met-tRNA an das entsprechende Codon der abgelesenen mRNA in die neu entstehende Polypeptidkette mithilfe des Proteintranslationsapparates am Ribosom eingefügt werden. Derartig markierte Proteine werden im Anschluss weiter prozessiert, um ihren Dienst in der Zelle aufzunehmen.

BONCAT – molekulares Werkzeug für die Identifizierung neusynthetisierter Proteine in Nervenzellen

Während der Entwicklung des Gehirns entsteht zwischen Neuronen und Gliazellen ein effi­zientes Kommunikationsnetzwerk dank der ­Bildung unzähliger Synapsen. Sowohl dieser als Synaptogenese bezeichnete Prozess als auch längerfristige Formen synaptischer Plastizität wie Lernen und Gedächtnisbildung sind charakterisiert durch dynamische Veränderungen des neuronalen Proteoms. ­Neben der Synthese neuer Proteine und deren korrekter Lokalisierung in der Zelle sind posttranslationale Modifikationen sowie gerichtete Proteindegradation Bestandteil dieser Veränderungen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass neuronale Zellen auch in distalen Bereichen ihrer Ausläufer (Dendriten) eine lokale Proteinsynthese realisieren können. Diese Eigenschaft ermöglicht es Neuronen beispielsweise, schnell und dynamisch auf Veränderungen in ihrem Aktivitätsmuster zu reagieren. Doch während die Kompositionen des neuronalen, insbesondere des synaptischen Proteoms, gut erforscht sind, ist unser Wissen über deren dynamische Veränderung während Synaptogenese und synaptischer Plastizität vergleichsweise gering. Um die Neusynthese von Pro­teinen unter diesen Bedingungen in ihrer Komplexität untersuchen zu können, haben wir eine von Tirrell und Mitarbeitern eingeführte ­Methode [5] zusammen mit David Tirrell und Erin Schuman weiterent­wickelt und sie BONCAT (bioorthogonal noncanonical amino acid tagging) genannt [6]. Grundlage dieser Technologie ist der metabolische Einbau nichtkanonischer Aminosäuren als Träger einer funktionellen Gruppe in de novo synthetisierte Proteine. Typische Vertreter dieser Aminosäuren sind Azidohomoalanin (AHA) mit einer Azidgruppe und Homopropargylamin (HPG) mit einer Alkingruppe. Beide nichtkanonischen Aminosäuren sind Surrogate für Methionin und haben alle Eigenschaften bio­orthogonaler Moleküle: Sie werden von den zelleigenen Aminosäure­transportern ins Zellinnere aufgenommen und – von der endogenen ­Methionyl-tRNA-Synthetase toleriert – in die wachsende Peptidkette anstelle von Methionin eingebaut. Wenngleich diese Form der metabolischen Markierung optimal verläuft, kann sie durch Verknappung nutzbaren ­Methionins bzw. durch Überexpression der Methionyl-tRNA-Synthetase weiter gesteigert werden. In weiter führenden Reaktionen wird die somit erworbene Funktionalität der neu synthetisierten Proteine für eine Kupfer(I)-katalysierte [3+2]-Azid-Alkin-Zykloaddition genutzt, bei der ein Biotin-Rest über seine komplementäre funktionelle Gruppe kovalent an die nichtkanonischen Aminosäuren im Protein gebunden wird. Mit der anschließenden Affinitätsreinigung an Streptavidin- oder NeutrAvidin-­Matrizes ist eine Anreicherung aller in einem definierten Zeitrahmen neusynthetisierten Proteine auf ca. 95% möglich, was quantitativ und qualitativ zu einer erheblichen Verbesserung der MS-basierten Proteomanalyse beiträgt. Als positiver Validierungsparameter für die Auswertung der massenspektrometrischen Proteinanalyse gilt die gegenüber Methionin abweichende Masse der nichtkanonischen Aminosäure.



Praktisch verläuft die Markierung neusynthetisierter Proteine recht unkompliziert. So kann man Azidohomoalanin (AHA) für den gewünschten Zeitraum der Analyse zu dem Medium kultivierter Zellen hinzugeben. Sofern Methionin (Met) nicht für den Stoffwechsel zur Verfügung steht wird stattdessen AHA metabolisiert und in neusynthetisierte Proteine eingebaut. Nach der Inkubation mit den entsprechenden Aminosäuren lässt sich der Einbau beispielsweise mithilfe von FUNCAT (fluorescent noncanonical ­amino acid tagging) nachweisen. Hierbei wird mithilfe der Klick-Reaktion, katalysiert durch einwertiges Kupfer, ein Fluorophor an die reaktive Azidgruppe des AHA gekoppelt. Diese Markierung ist spezifisch für Proteine, die eine Inkorporation von AHA aufweisen, wie hier bei der AHA-Markierung in Neuronen im Vergleich zur Markierung mit Methionin erkennbar wird. Die Methode erlaubt dadurch die Analyse von neusynthetisierten Proteinen mittels Fluoreszenz-mikroskopie. Neusynthetisierte Proteine lassen sich somit bis in die feinen Fortsätze neuronaler Dendriten nachweisen und die Dynamik der Proteinsynthese unter verschiedensten Gesichtspunkten betrachten.

FUNCAT lässt neusynthetisierte Proteine leuchten

Die durch den Einbau nichtkanonischer Aminosäuren erworbene Funk­tionalität neusynthetisierter Proteine lässt sich auch für weitere An­wendungen nutzen. So kann beispielsweise die zur bioorthogonalen artifiziellen Aminosäure komplementäre funktionelle Gruppe an einen Fluores­zenzfarbstoff gekoppelt sein, was eine Visualisierung der de novo synthetisierten Proteine ermöglicht. Mithilfe dieser von uns als FUNCAT (fluorescent noncanonical amino acid tagging) bezeichneten und ebenfalls in Kooperation mit Dave Tirrell und Erin Schuman entwickelten ­Methode [7] konnten wir in neuronalen Primärkulturen nicht nur die zeitabhängige Zu- und wieder Abnahme neusynthetisierter Proteine zeigen, sondern auch deren Lokalisierung bis in feinste synaptische Strukturen bildlich erfassen. Darüber hinaus ermöglichte uns diese Technologie, einen Anstieg der Proteinneusynthese in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität sowohl zu visualisieren als auch quantitativ auszuwerten [7]. Die Anwendungsmöglichkeiten von FUNCAT sind indes nicht auf zelluläre Kultur­systeme beschränkt. Auch in Hirnschnitten aus Maus und Ratte sowie frühen Entwicklungsstadien des Zebrafischs konnten mit dieser Technologie erfolgreich entwicklungs- und aktivitätsabhängig Regionen gesteigerte Proteinneusynthese identifiziert werden [8].

QuaNCAT und die weitere Zukunft der NCATs

In jeder Zelle führen schätzungsweise 10.000 verschiedene Proteine in unterschiedlicher Kopien­anzahl alle notwendigen Funktionen durch. Betrachtet man die Kommunikationsschnittstelle zwischen zwei Neuronen, die chemische Synapse, so sind auf der mit Neurotransmitter-Rezeptoren besetzten postsynaptischen Seite allein circa 1.500 unterschiedliche Proteine zu finden (siehe hierzu auch www.synprot.de). Für eine effiziente und dauerhafte Kommuni­kation zwischen den beiden Neuronen spielen dabei nicht nur die Art und Anzahl an Neurotransmitterrezeptoren eine wichtige Rolle, sondern auch die so genannten Gerüstproteine, die als Integrationsplattformen auf der postsynaptischen Seite Signale unterschiedlichster Art empfangen, integrieren und z.B. an das Zyto­skelett und weiter führende Signalwege weitergeben. Unterschiede z.B. in der Kopienanzahl des Gerüstproteins Shank 2 führen zu morphologischen Veränderungen in den Synapsen, ­wirken sich damit auf deren Reifung aus und ­führen letztendlich zu einer Autismus-Symptomatik. Daraus lässt sich schließen, dass nicht nur die Identität und Lokalisierung innerhalb der Zelle einzelner Proteine von Interesse ist, sondern eben auch deren genaue Anzahl. Vor diesem Hintergrund wurde BONCAT zur relativen Quantifizierungsmethode (QuaNCAT) ausgebaut [9], die in Immunzellen erfolgversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Bestimmung der Quantität einzelner – teilweise auch noch unbekannter – Proteine liefern konnte. Diese Ergebnisse lassen hoffen, dass nun auch für Neuronen entsprechende Quantifizierungen durchgeführt werden können, um physiologische und pathophysiologische Unterschiede aufzuspüren. Wünschenswert in diesem Zusammenhang wäre hierbei auch, dass eine Zellspezifität erreicht werden kann, die den Proteinbesatz unterschiedlicher Zelltypen auflöst. Dies würde unter anderem unerwünschte Nebeneffekte bei der pharmakologischen Intervention von psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Depression, aber auch neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson erlauben und insgesamt zu einem besseren Verständnis dieser Erkrankungen beitragen – und nicht zuletzt den Beitrag von Neuronen, Astrozyten und Mikrogliazellen im Gehirn klären.

Literatur
[1] Chalfie, M. et al. (1994) Science 263, 802–805
[2] Heim, R. et al. (1994) PNAS 91, 12501–12504
[3] Prescher, J.A. et al. (2004) Nature 430, 873–877
[4] Saxon, E. & Bertozzi, C.R. (2000) Science 287, 2007–2010
[5] Link, A.J. et al. (2003) Curr. Opin. Biotechnol. 14, 603–609
[6] Dieterich, D.C. et al. (2006) PNAS 103, 9482–9487
[7] Dieterich, D.C. et al. (2010) Nat. Neurosci. 13(7), 897–905
[8] tom Dieck, S. et al. (2012) Curr. Protoc. Cell Biol., Chapter 7
[9] Howden, A.J. et al., (2013) Nat. Methods 10(4), 343–346

Bild:© Fotolia.com | alphaspirit

Stichwörter:
NCATs, Nervensystem, Gedächtnisbildung

L&M 5 / 2014

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2014.
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