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Materialforschung - Optimalformen ohne Spannungsspitzen

Mechanische Belastbarkeit in der Natur

Die Natur kennt keine Gnade! Wer nicht funktioniert, wer im Wettbewerb nicht bestehen kann, wird zumindest verjagt, überschattet, verdrängt oder gar aufgefressen. Kein Wunder also, dass die Überlebenden der Evolution, was ihre mechanische Belastbarkeit angeht, sowohl form- optimiert als auch werkstoffoptimiert sind.

Prof. Dr. Claus Mattheck, Institut für Materialforschung II, Forschungszentrum Karlsruhe GmbH in der Helmholtz-Gemeinschaft

Bedenkt man noch, dass mechanische Bauteile meist an Kerben, d.h. scharfen Ecken, Rillen oder Löchern Risse starten und schließlich versagen können, so lohnt sich ein verschämter Blick auf die Ausformungen natürlicher Kerben, die in Jahrmillionen vielleicht eine Optimalform ohne gefährliche Spannungsspitzen reifen ließen, die auch unseren Maschinchen als lebensverlängerndes Elexier dienen könnten.

Vorbild Natur

Der Stammfuß der Bäume war hier die Stimulanz oder besser der Wurzelanlauf, der die Wurzel mit dem Stamm verbindet (Abb. 1). Die Idee: Die scharfe Ecke wird am Stammfuß durch ein Zugdreieck überbrückt und so entschärft. Denkt man darüber nach, so findet sich schnell die abgebildete Konstruktionsvorschrift, die auch gut durch die Tangensfunktion wiedergegeben wird.


Abb. 1 Oben: Ein Baumstamm bildet mit der Erdoberfläche eine scharfeckige Kerbe. Er überbrückt und entschärft diese Ecke durch den Wurzelanlauf, der meist windseitig am stärksten ausgeprägt ist und der wie ein Zugdreieck graphischen Methode zum Abbau von Kerbspannungen und zur Entschärfung von Sollbruchstellen. Das Dreieck wird symmetrisch
zur Ecke angebracht. unten Ausgehend vom unteren 45°-Winkel wird ein Zugdreieck in die „scharfe“ Ecke gelegt. So entsteht weiter oben eine neue, bereits stumpfere Kerbe. Diese wird wiederum symmetrisch überbrückt, immer von der Mitte des unteren Zugdreiecks ausgehend, und so weiter – meist reichen drei Zugdreiecke. Rundet man die verbleibenden
stumpfen Ecken mit Kreisradien aus, so erhält man eine in Lastrichtung optimierte Kerbkontur, die auch gut mit dem Ergebnis der Computermethode CAO übereinstimmt.
(aus: C. Mattheck, Verborgene Gestaltgesetze der Natur - Optimalformen ohne Computer, Verlag Forschungszentrum Karlsruhe GmbH 2006)

Geht man mit dieser Kontur der „Zugdreiecke“ im Kopf durch die Welt, so stellt man schnell fest, dass es fast schwerer ist, sie nicht zu sehen, als sie zu finden (Abb. 2).


Abb. 2: Der Stammfuß der Bäume, der Säugetierknochen, die Steilküste und die
Erdpyramide werden durch die Kontur der Zugdreiecke beschrieben.

Optimale Kurve

Insbesondere überrascht den evolutionsgläubigen Kurvensucher, dass nicht nur lebende und damit überlebenswillige Strukturen durch die Methode der Zugdreiecke beschrieben werden, sondern auch tote, geomechanische Gebilde denen, weil sie ohnehin tot sind, am Überleben nicht viel liegen kann. Die Erosion schafft Konturen mit gleichförmiger Spannungsverteilung ohne lokale Spannungsspitzen, wie wir sie in technischen Kerben oft noch finden. Damit ist die Erosion zumindest theoretisch eine „Fertigungsmethode“, die aus einem druckbelasteten Rohling Optimalformen knabbert. Auch Gabelformen der Natur lassen sich als zwei zusammengesetzte Wurzelanläufe mit der Zugdreieckskontur beschreiben, wie Abb. 3 beispielhaft zeigt.


Abb.3:Die Baumgabel, die Buchten im Roteichenblatt, die Erosionskerbe im Eisberg und die Gabel zwischen zwei Erdpyramiden (Tirol und Euseigne) sind formenverwandt mit dem Zuckerhut als konvexes Gegenstück!

Damit nicht genug – die Kontur findet sich als Risskontur in verschiedensten Werkstoffen. Man möchte meinen, dass beim Versagen von Bauteilen, formoptimierte Fragmente entstehen können. So zeigen Risse (Abb. 4) in Zimmerecken, in Stahlproben und im Fahrbahnasphalt oft diese Kontur und zwar dann, wenn Schubspannungen bei der Rissbildung eine Rolle spielen. Allgemein herrscht die Ansicht, dass Schaden und Schadensverhütung zueinander stünden wie der Teufel und der liebe Gott. Was aber, wenn die Zerstörung – auch die durch Bruch – eine Fertigungsmethode für die Optimalform wäre, wenn Schaden und Prävention ein einander in ewig nörgelnder Hassliebe verbundenes Ehepaar wären?
Es spricht in bislang unbekannten Grenzen einiges dafür (Abb. 5). Reißt man ein Papierschnitzel oder ein Stück angeschnittene Alufolie ab, so entsteht die Kontur der Zugdreiecke also eine Optimalform für um 90 Grad gedrehte Lastrichtung (Wir haben dazu kreuzverklebtes und damit quasiisotropes Papier verwendet: C. Mattheck, K. Bethge: Schnitzeljagd: Die Wahlverwandtschaft von Optimalform und Risskontur, Konstruktionspraxis 11-2008, 24- 28).

In dem Büchlein C. Mattheck „Verborgene Gestaltgesetze der Natur – Optimalformen ohne Computer“ (Bezug: sh.:www.mattheck.de ) findet sich ein computerfreier Zugang zum Verständnis natürlicher Formen einerseits und zur Gestaltoptimierung technischer Bauteile mit der Methode der Zugdreiecke andererseits.

Grenzenlose Träume

Wir sind damit am Neuanfang einer „geometrischen“, weitgehend formelfreien Natur-wissenschaft, die uns Formen und Verlaufsrichtungen liefern kann, wohl aber niemals Zahlen. Sie findet bereits jetzt als qualitative Volksmechanik schnell Akzeptanz in der industriellen Konstruktion und im Maschinenbau, aber auch in Schulen und bei Schülern. Die Grenzen der vorgestellten Denkwerkzeuge kennen wir nicht, sie sind wohl viel, viel weiter gesteckt als wir früher glaubten und damit stehen wir vor einem Potenzial an einfachen Erklärungsmöglichkeiten, das uns hoffen lässt – und träumen…

Buchvorstellung von Dr. W. Marx"STUPSI erklärt den Baum"

Fotos: © Prof. Dr. Claus Mattheck

Literatur

C. Mattheck, Verborgene Gestaltgesetze der Natur – Optimalformen
ohne Computer, Verlag Forschungszentrum
Karlsruhe GmbH 2006
C. Mattheck, Warum alles kaputt geht – Form und Versagen
in Natur und Technik, Verlag Forschungszentrum
Karlsruhe GmbH 2003

Stichwörter:
Biologie, Materialforschung, Zugdreieck

L&M 1 / 2009

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 1 / 2009.
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