Medizin
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Forensik - Postmortalzeit
Forensik - Postmortalzeit
Verfahren zur Bestimmung der Liegezeit von Leichen
Dr. Frank Wehner,
Institut für Gerichtliche Medizin, Universität Tübingen
Ein Problem für das Nachlassgericht
Der Fall war für die Polizei eigentlich klar und die Ermittlungsakteschnell geschlossen. Fremdverschulden war auszuschließen – ein Suizid wie er in Deutschland täglich vorkommt. Das Unangenehmste dabei war nur, dass die Leiche schon mehrere Tage tot war und entsprechende Verwesungserscheinungen aufwies. Aufgrund der Leichenerscheinungen und der polizeilichen Ermittlungen war der Tod 2 bis 8 Tage vor dem Auffinden der Leiche eingetreten. Der früheste Zeitpunkt (Todeseintritt 8 Tage vor Auffinden) ließ sich recht einfach ermitteln, wurde der Betreffende doch an diesem Tag letztmals lebend gesehen, als er an diesem Tag den Schlüssel für seine neu angemietete Wohnung abholte. Fraglich war nur, wann der spätmöglichste Zeitpunkt war. Gerade dies bereitete dem Nachlassgericht große Schwierigkeiten, verstarb doch drei Tage vor dem Auffinden der Leiche dessen Großmutter, welche ein Villengrundstück zu vererben hatte. Verstarb der Suizident nun vor seiner Großmutter, so geht das Erbe vollständig auf den Bruder über, verstarb der Suizident jedoch nach seiner Großmutter, ist das Erbe auf beide Enkel und im Weiteren ggf. auf deren Kinder aufzuteilen, da die Eltern ebenfalls bereits verstorben waren. Daher war nun die Gerichtsmedizin gefragt, den Todeszeitraum näher einzugrenzen.
Die späte Leichenliegezeit
Während zahlreiche Möglichkeiten existieren, die eine Eingrenzung der Todeszeit in den ersten circa 48 Stunden nach Todeseintritt mit hinreichender Genauigkeit erlauben, existieren nur wenige systematische Untersuchungen und hieraus abgeleitete Methoden zur Eingrenzung der späten Leichenliegezeit. Geprägt wird die späte Postmortalzeit durch Autolyse, Fäulnis, Verwesung und konservierende Vorgänge. Während unter Autolyse postmortale enzymatische Prozesse ohne Beteiligung von Mikroorganismen verstanden werden, die zu einem Erweichen des Gewebes und Strukturauflösung führen, ist die Leichenfäulnis durch überwiegend reduktive Prozesse, die zu fortschreitender anaerober Gewebszersetzung durch bakterielle Enzyme führen, gekennzeichnet. Unter dem Begriff Verwesung werden überwiegend oxidative Prozesse zusammengefasst, die zu einer fortschreitenden aeroben, bakteriellen Leichenzersetzung mit stechend-muffigem Geruch führen. Zu den konservierenden Vorgängen werden Mumifizierung (Hemmung der bakteriellen Fäulnis- und Verwesungsprozesse infolge von Wasserverlust),Fettwachsbildung (Umwandlung des Körperfettes in eine weißlich- schmierige bis kalkharte Masse) und andere seltene rekonservierende Leichenerscheinungen (z.B. Moorleichen, Salzleichen) gerechnet.
Verfahren zur Eingrenzung der späten Leichenliegezeit
Untersuchungen des Gehirns mittels hochauflösender1H-Magnetresonanzspektroskopie [1] ergeben nach längerer Liegezeit recht präzise Ergebnisse, wobei die Veränderungen der chemischen Zusammensetzung des Gehirngewebesund der Metabolitenkonzentrationen erfasst werden und somit Rückschlüsse auf die Leichenliegezeitzulassen. Auch entomologische Untersuchungsverfahren liefern vergleichsweise zuverlässige und präzise Ergebnisse, wobei das Madenwachstum u. a. sehr von Temperatureinflüssen und der Madenart abhängig ist, weshalb die Beurteilung einem Spezialisten vorbehalten bleiben muss. Gerade in dem vorliegenden Fall befanden sich jedoch keine Maden auf der Leiche – die Wohnung war frisch renoviert und neu bezogen, ohne dass sich bis zu diesem Zeitpunkt eine Fliege dorthin verirrt hätte.
Immunhistochemische Verfahren, die die späte Leichenliegezeit eingrenzen
Eine weitere Methode die späte Leichenliegezeit einzugrenzen, stellt der immunhistochemische Nachweis körpereigener Proteine dar. Da Proteine einer postmortalen
Proteolyse unterliegen und somit in ihrer Struktur zerstört werden, ist die Bindung eines für dieses Proteinspezifischen Antikörpers nach einer gewissen Zeit nicht mehr möglich, weshalb der Antigennachweis misslingt. Durch die Erfassung der Zeitspanne der möglichen Markierbarkeit(= intaktes Protein) und des Zeitpunktes, zu welchem das Protein so weit zersetzt ist, dass eine Markierung nicht mehr möglich ist, ist die Eingrenzung der Leichenliegezeit möglich. So wurde die zeitliche Abhängigkeit der möglichen Markierbarkeit mehrerer endogener Proteine unter unterschiedlichsten Liegebedingungen erfasst [2–7], wobei sich zeigte, dass die pankreatischen ?-Zellen von Leichen mit einer Liegezeit bis zu 12 Tagen in allen Fällen eine positive Immunreaktion gegenüber Insulin aufweisen, was bei einer Leichenliegezeit von mehr als 30 Tagen in keinem Fall zu verzeichnen ist. Somatostatin, GFAP, Calcitonin, Thyreoglobulin und Glucagon sind regelmäßig bis zu 2 Tage(Somatostatin), 3 Tage (GFAP), 4 Tage (Calcitonin), 5 Tage(Thyreoglobulin) bzw. 6 Tage (Glucagon) nach Eintritt des Todes, in keinem Fall nach einer Leichenliegezeit von mehr als 10 Tagen (Somatostatin), 12 Tagen (Calcitonin, Thyreoglobulin) bzw. 13 Tagen (GFAP, Glucagon)markierbar. Anhand dieser Daten ist eine Liegezeiteingrenzung möglich, da eine negative Immunreaktion von z.B. Glucagon bedeutet, dass der Tod zumindest 7 Tage vor der Obduktion und Fixierung des Gewebes in Formalin– was ein Stoppen der Proteolyse bewirkt – eingetreten ist. Im Falle einer Markierung des Glucagons(s. Abbildung) kann davon ausgegangen werden, dass der Todeseintritt maximal 13 Tage zurückliegt. Die Kombination mehrerer Parameter ermöglicht es dabei, die naturgemäß großen Spannbreiten weiter einzugrenzen, wobei außergewöhnliche Umgebungstemperaturen oder Erkrankungen der untersuchten Organe Ausschlusskriterien für die Verwendung dieses Verfahrens darstellen können.
Erfreute Erben
In dem beschriebenen Erbfall zeigten die immunhistochemischen Untersuchungen positive Immunreaktionen auf Insulin, Glucagon und Somatostatin, während die Untersuchungen auf Thyreoglobulin und Calcitonin negativ verliefen. Somit war von einem Todeseintritt von sechs bis acht Tagen vor dem Auffinden der Leiche auszugehen, somit auf jeden Fall zu einem Zeitpunkt als die Großmutter noch lebte. Alleinerbe war somit der Bruder des Suizidenten, welcher sich neben dem Erbe auch über dieses neue Verfahren zur Eingrenzung der späten Leichenliegezeit gefreut haben dürfte.
frank.wehner@uni-tuebingen.de
Foto 1: © www.photocase.de | cw design
Foto 2: © Dr. Frank Wehner
Literatur
[1] Scheurer E, Ith C, Dietrich R, Kreis R, Huesler J, Dirnhofer R, Booesch C. Statistical
evaluation of 1H-MR spectra of the brain in situ for quantitative determination
of postmortem intervals (PMI). Proc Int Soc Magn Reson Med 2003,
11: 569
[2] Wehner F, Schieffer MChr, Wehner HD, Subke J. Delimitation of the time of
death by immunohistochemical insulin detection in pancreatic ?-cells. Forensic
Sci Int 1999; 105 (3): 161–169
[3] Wehner F, Wehner HD, Schieffer MChr, Subke J. Delimitation of the time of
death by immunohistochemical detection of thyroglobulin. Forensic Sci Int
2000; 110 (3): 199–206
[4] Wehner F, Wehner HD, Subke J. Delimitation of the time of death by immunohistochemical
detection of calcitonin. Forensic Sci Int 2001; 122 (2–3): 89–94
[5] Wehner F, Wehner HD, Subke J. Delimitation of the time of death by immunohistochemical
detection of glucagon in pancreatic ?-cells. Forensic Sci Int
2002; 124 (2–3): 192–199
[6] Wehner F, Steinriede A, Martin D, Wehner HD. Two-tailed delimitation of the
time of death by immunohistochemical detection of somatostatin and GFAP.
For Sci Med Pat 2006; 2 (4): 241–248
[7] Claßen I.B. Eingrenzung der Leichenliegezeit mittels immunhistochemischem
Nachweis von Cystatin-C in der Nebenniere. Dissertation Universität Tübingen
2006
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L&M 2 / 2008
Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 2 / 2008.
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