L&M-4-2008
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Université: la grande illusion
Université: la grande illusionAnlass für einen Blick über den Zaun
Prof. Dr. Philippe A. Bopp, VFR de chimie, Université Bordeaux Das Buch „Université: La Grande Illusion“ [1], erschienen im März 2007, vereinigt unter der Herausgeberschaft von Pierre Jourde, Professor für französische Literatur an der Universität Grenoble III, eine Reihe aktueller Aufsätze. Diese sind ursprünglich in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen und wurden teilweise für die Buchveröffentlichung umgearbeitet. Die Beiträge der insgesamt vierzehn Autoren beschäftigen sich, sicher auch aus Anlass der pünktlich zur Präsidentschaftswahl in Frankreich wieder einmal lautstark verkündeten „großen Universitätsreform“, mit dem Zustand der französischen „Universitäten“ (warum „Universitäten“ in Anführungszeichen wird sich gleich weisen). Inzwischen (dies ist in der 46. Woche 2007 geschrieben) weiß man, dass es, zumindest bisher, bestenfalls ein winziges Reförmchen geworden ist und selbst dagegen laufen die einschlägig bekannten Kreise schon wieder mit Agitation, Blockaden und Streikaufrufen Sturm. Dass die „Universitäten“ in Frankreich materiell in einem völlig verlotterten Zustand sind, ist wahrlich nichts Neues. Jeder, der einmal dort war (man frage nur einmal heimkehrende ERASMUS Studenten), kann es bestätigen; im Mittel ist es auch in etwa jede Woche in einer jeweils etwas verschiedenen Variation in der Presse nachzulesen. Diese Misere ist aber nur am Rande Thema des Buchs. Es geht da um wesentlich ernstere Probleme, die sich leider auch nicht durch das übliche Zuschütten mit Geld lösen lassen werden. Der Literaturwissenschaftler André Compagnon kommt sofort zur Sache und überschreibt seinen Beitrag: „Pourquoi la France n’a pas d’Université“ (a). Das ist die Kernthese des Buches: In Frankreich ist das Konzept einer Institution, die Forschung und Lehre nach den Idealen der Europäischen Universität (wie sie zum Beispiel in der Magna Charta Universitatum, Bologna 1988 [2], niedergelegt sind) vereinigt, verloren gegangen. Es ist auch wenig Wille erkennbar, sich wieder in Richtung auf diese Ideale hin zu bewegen, ganz im Gegenteil: „ ... il n’y a pas d’idée d’université en France“ (b) schreiben der Herausgeber und der Literaturwissenschaftler André Guyaud in einem gemeinsamen Beitrag. Und genau das ist das Problem. Historisch hat in Frankreich der Staat schon immer unabhängigen Universitäten misstraut. Spätestens seit dem haarsträubenden Napoleonischen Erlass vom 17. März 1808 [abgedruckt z.B. in 3] sind „Universitäten“ nichts anderes mehr als unter Pariser Kuratel gestellte und streng von oben herab kontrollierte, untergeordnete Lehranstalten. Durch das ganze 19. und 20. Jahrhundert hindurch wurde herumgewurstelt und reformiert, ohne jemals an dieser Grundsatzentscheidung wirklich zu rütteln. Dieser Wackelzustand hielt bis 1968. Während anderswo die Universitäten aufgrund ihrer Tradition, ihres Selbstbewusstseins, ihrer Verpflichtung auf die Humboldtschen Ideale den Sturm mehr oder minder beschädigt, aber doch irgendwie noch als solche erkenn bar überstanden, brach in Frankreich das leere Gehäuse krachend zusammen. Zart deuten die Autoren an, dass mangelndes Rückgrat der Verantwortlichen an dieser Katastrophe vielleicht nicht ganz unschuldig war, jedoch in den Augen des Rezensenten wären da vielleicht klarere Worte angebracht gewesen. Wie dem auch sei, es kam dann, wie anderswo auch, die Studentenschwemme, nur noch schlimmer. Es ist wohl keinem französischen Politiker klar, dass es bei der nun einmal vorliegenden einigermaßen symmetrisch um ihren Mittelwert verteilten menschlichen Intelligenz nicht möglich ist, 80 % überdurchschnittlich Begabte zu haben. Das ist aber der Prozentsatz, der zur „Hochschulreife“ herangeführt werden soll. Bei ca. 75 % ist man (angeblich!) schon angekommen. Das Problem wurde dann so gelöst, dass die wirklich „Guten“ (oder zumindest die, die unter Prüfungsstress vorher auswendig gelerntes Zeug wieder ausspucken können) zu den „grandes“ (oder nicht ganz so grandes) „écoles“ geschickt werden und die „Universitäten“ sich gefälligst um den Rest kümmern sollen. Écoles (Schulen) sind eben keine Universitäten, auch wenn sie gerade dem Ausland gegenüber immer wieder versuchen so zu tun als ob. Sie sind es unter anderem deswegen nicht, weil sie keine eigenständige wissenschaftliche Forschung betreiben und auch nicht betreiben sollen. Brav angepasst, zeigen sie zudem noch weniger Autonomiegelüste als die in dieser Hinsicht schon ungeheuer keuschen „Universitäten“, was sie natürlich „oben“ noch beliebter machte. Zur Bewältigung und Ruhigstellung der übrig bleibenden Studentenfluten wurde die „Universität“ dann planmäßig zur einer Billig-eierlegenden-Lehr-Wollmilchsau aufgebläht. In den gesetzten Worten des schon zitierten André Guyaud: „… l’état français a fait le choix non pas d’une Université libre et forte, mais d'une université asservie et faible“(c). Wie gesagt: Lehr-Wollmilchsau oder Studenten- Bewahranstalt. Forschung ist bestenfalls zweitrangig. Universitätsforschung, insbesondere in den Naturwissenschaften, wurde dementsprechend ausgegliedert und unter das Kuratel anderer zentralistischer Organisationen gestellt, wie z.B. des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS, vielfach mit dem Adjektiv „sowjetisch“ belegt [4]). Dieses „Outsourcing“ der Forschung, im internationalen Wettbewerb vielleicht das gravierendste Handicap, kommt in dem besprochenen Buch, vorwiegend von Geisteswissenschaftlern geschrieben, für meinen Geschmack als Naturwissenschaftler etwas zu kurz. Somit ist jedenfalls das Rückgrat der Universität, die viel beschworene Einheit von Forschung und Lehre, endgültig gebrochen, wie der Jurist Olivier Beaud explizit feststellt und dokumentiert. Auch von der akademischen Freiheit bleibt unter dem permanenten Mikromanagement von oben nicht viel übrig, weder für die Lehrenden, noch für die Lernenden. In diesem Zusammenhang ist auch das Desaster zu sehen, zu dem sich die „bachelor-master Reform“ (im Kürzelwahn „LMD“(d) genannt, siehe [5]) offensichtlich nicht nur in den Naturwissenschaften entwickelt hat. Die Bürokratisierung triumphiert, das Niveau erreicht seinen historischen Tiefstand, was in dem Buch, unter anderem, sowohl ein Mathematiker als auch ein Mediziner belegen. Jeder (wie gesagt fast 75 % eines Altersjahrgangs) soll ein schönes Diplom bekommen, verkündet die Politik und macht Druck. Und was macht die gehorsame „Universität“? Sie macht Diplome, erfindet Abschlüsse, kreiert stets neue, nutzlose und vorwiegend „berufsqualifizierende“ Studiengänge.Zur Sicherung der Qualität fehlen ihr natürlich alle Voraussetzungen und vor allem die dafür geeigneten Studenten. Der Pariser Literaturwissenschaftler Paolo Tortonese nimmt diesen immer weiter um sich greifenden Unfug in seinem Aufsatz „Contre la professionnalisation de l’université“(e) mutig ins Visier. Dass die Arbeitgeber auf diese „Abschlüsse“, die das Papier nicht Wert sind, auf dem sie gedruckt sind, nicht hereinfallen, liegt nach allgemeinem Dafürhalten natürlich daran, dass sie böse, böse Kapitalisten sind! Scharf geißeln die Autoren die aus der vorherrschenden Konzeptionslosigkeit herrührende permanente Herumreformiererei. Jeder Minister, und es gibt derer viele, denn die Lebensdauer eines Kabinetts in Paris ist nicht sehr lang, meint irgendwo sein Duftmarke hinterlassen zu sollen. Ständig wird völlig konzeptionslos herumgebastelt. Bizarr, barock und byzantinisch sind zu schwache Adjektive, um die resultierenden Strukturen zu beschreiben; die in [6] und [7] beschriebenen individuellen und kollektiven Situationen sind durchaus nicht hypothetisch. Es soll „laboratoires“ [8] gegeben haben, die bis zu 6 „tutelles“ (vorgesetzte Dienstbehörden) gehabt haben sollen, teilweise von verschiedenen Ministerien. Der Rezensent hat unter seinen Kollegen schon seit Jahren ein Flasche Dom Perignon als Preis für denjenigen ausgesetzt, der es schafft, ein einigermaßen kohärentes Organisationsdiagramm der „Chemie“ [7] an seiner jetzigen Universität zu zeichnen. Bisher hat niemand die Herausforderung angenommen. Eine Flasche ist für eine solch herkulische Arbeit sicher einfach zu wenig. Wenig verwunderlich auch, dass Gremienwirrwarr, Pseudo-Demokratisierung, Kontrolle durch die Gewerkschaften, Vitamin B und in manchen Fächern wohl auch noch das Parteibuch, vorwiegend das linke, die Kollegialität in der Führung solcher Monstren ersetzen. Von Effizienz keine Rede. Zugegeben: Bis auf den Gewerkschaftseinfluss, selbst in sogenannten „wissenschaftlichen“ Gremien, kennt man das vielleicht auch woanders. Der letzte Beitrag des Buchs verdient es, besonders herausgehoben zu werden. Es ist eine Satire. Der Straßburger Jurist Olivier Jouanjan schildert, in Anspielung auf ein Abenteuer von „Tintin“ [9], das Leben eines „professeur“. Scharf fokussiert passieren da die Missstände noch einmal Revue, besonders explizit anlässlich des Besuchs des Helden bei seinem Kollegen in Deutschland. Als direkt Betroffener weiß der Rezensent nicht, ob er da lachen oder heulen soll. Letzte Frage: Warum sollte all das irgendeinen, z.B. einen labor&more Lesenden und somit an wissenschaftlichen Fragestellungen interessierten Zeitgenossen, außerhalb Frankreichs beschäftigen? Antwort: Zunächst einmal weil wir in Europa alle in einem Boot sitzen, insbesondere dem wieder erstarkenden Asien gegenüber. Dann, weil jeder Eiterherd, wenn er nicht behandelt wird, die Tendenz hat sich auszubreiten. Und so gesund sind die Universitäten anderswo auch nicht, dass sie jedem Angriff auf ihre Gesundheit garantiert standhalten würden. Die immer aktiver werdenden Brüsseler Kanäle sind da vorgezeichnete Infektionswege: „worst practice“ scheint sich dort leider oft wesentlich schneller auszubreiten als „best practice“. Anzeichen der Ansteckung sind gerade in letzter Zeit in Deutschland selbst aus der Ferne unschwer zu erkennen, man denke nur an den Vorschlag des Wissenschaftsrates zur Einführung von „Lehrprofessoren“. Viel gäbe es noch über dieses Buch zu berichten. Fest steht: Es ist ein absolutes Muss für jeden, der sich auch nur ein wenig mit der Situation der Universitäten in Europa beschäftigen will. Es ist außergewöhnlich ehrlich und durchbricht, wie es nur selten geschieht, die Fassaden der Potemkinschen Dörfer, die man sonst in Frankreich so erfolgreich überall zu errichten weiß (wie es schon vor Jahren der langjährige ARDKorrespondent in Paris, Ulrich Wickert, beschrieb [10]). Es ist sehr gut geschrieben und leicht lesbar; auch Gelegenheit für 21 Euro mit einem aktuellen und wichtigen (denkt der Rezensent) Thema sein Schulfranzösisch aufzupolieren. Man kann es auch als Gruselbuch lesen. Wachsamkeit sollte dazu beitragen, dass es nicht zudem auch zu einem Menetekel wird.
(a) Ohne Fragezeichen! Daher: Foto: © Prof. Dr. Philippe A. Bopp
Verweise + Anmerkungen |
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