Designerzucker als Impfstoffe
Designerzucker als Impfstoffe
Zucker auf der Oberfläche menschlicher und bakterieller Zellen bilden einen dichten Pelz, der dem Schutz und der Kommunikation dient. So tragen verschiedene Zellen ganz bestimmte Zucker, die – wenn synthetisch nachgebaut – die Basis für Impfstoffe und Diagnostika abgeben. Diese Anwendungen blieben lange weitgehend ungenützt, weil die chemische Zuckersynthese bisher extrem zeitaufwändig war. Ein neuer, vollautomatischer Oligosaccharid-Syntheseapparat erlaubt nun Zugang zu Designerzuckern in Stunden anstelle von Monaten. Damit eröffnen sich immense Anwendungsmöglichkeiten für Vorbeugung und Therapie von Erkrankungen wie Malaria und Infektionen mit Krankenhauskeimen.
Bedeutende Informationsträger
Wenn wir von Zuckern hören, dann denken wir wohl eher an Nahrungsmittel als an Infektionskrankheiten. Dabei haben die beiden viel gemein – die Bausteine sind sehr ähnlich – mit dem Unterschied, dass Sucrose aus zwei Bausteinen besteht und die Zucker auf der Zelloberfläche aus fünf bis ungefähr 200 Bausteinen. Lange dachte man, dass der die Zelle umgebende Zuckerpelz nur strukturelle Eigenschaften besäße, aber nun ist klar, dass die spezifischen Zucker auf verschiedenen Zellen und Organismen Informationen tragen, die unter anderem bei der Anheftung von Zellen an andere Geweben eine große Rolle spielen.
Dies ist bei der Befruchtung der Eizelle gewünscht, bei der Tumormetastase sicher nicht. Untersuchungen zur Chemie und Biologie der Zucker haben jahrzehntelang darunter gelitten, dass die komplexen Zucker heterogen und extrem schwer aufzureinigen sind. Reine Zucker in genügenden Mengen sind aber unbedingt nötig, wenn Struktur-Aktivitätsbeziehungen bestimmt werden sollen, dem ersten Schritt in der Entwicklung von Diagnostika und Impfstoffen. Die Synthese von Peptiden und Oligonucleotiden ist heute mithilfe der automatisierten Festphasensynthese zum größten Teil Routine und liefert definierte Oligomere als molekulare Werkzeuge. Vor der Entwicklung der Festphasensynthese von Peptiden durch Merrifield 1962 war die Herstellung der Peptide ebenso zeitaufwändig wie die der Zucker bis vor wenigen Jahren. Ohne die schnelle Synthese von Primern wäre die polymerase chain reaction (PCR) zur Vervielfältigung der DNA niemals möglich gewesen. Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde erstmals versucht, Oligosaccharide auf der Festphase aufzubauen, aber stereo- und regioselektive Glykosylierungsreaktionen für die Bindungsknüpfung fehlten noch. Nachdem in den 1980-Jahren bessere Glykosylierungsreagenzien eingeführt wurden und immer größere Zucker – wenn auch mit enormen Zeit- und Geldaufwand – synthetisch hergestellt wurden, war die Grundlage für einen neuen Anlauf gelegt. [1]
Automatisierte Festphasensynthese von Oligosacchariden
Auf einem polymeren Träger kann unter Verwendung von Reagenzien in großem Überschuss ein kompletter Reaktionsumsatz bei Glycosylierungs- und Entschützungsreaktionen erreicht werden, wobei überschüssige Reagenzien durch einfaches Waschen entfernt werden können. Eine chromatografische Aufreinigung der Reaktionsprodukte erfolgt erst am Ende der Synthese. Der zur Verbindung von fester Phase und wachsender Zuckerkette eingesetzte Linker wurde nun so entwickelt, dass er eine Funktionalisierung für die weitere Verwendung der synthetisierten Oligosaccharide ermöglicht. Die Produkte können so nach der Abspaltung entweder auf Kohlenhydratmikroarrays gebunden oder mit Proteinen oder anderen Makromolekülen zu Glycokonjugaten verknüpft werden. Die Kettenverlängerung an der Festphase verwendet Zuckerbausteine, die je nach gewünschtem Verzweigungsmuster und erhoffter Stereochemie der glycosidischen Bindung mit orthogonalen Schutzgruppen und einer anomeren Abgangsgruppe versehen wurden. Bioinformatikuntersuchungen haben ergeben, dass relativ wenige Bausteine (ca. 50–60) genügen, um einen großen Teil der im Menschen vorkommenden Glycane zu synthetisieren.
Ein Kupplungszyklus, der aus alternierenden Glycosylierungs- und Entschützungsschritten besteht, erzeugt das gewünschte Oligosaccharid. Der repetitive Charakter der Festphasensynthese eignet sich dabei besonders gut für die Automatisierung. Nachdem anfänglich noch ein alter Peptidsyntheseautomat Anwendung fand, wurde ein Instrument entwickelt, um den speziellen Anforderungen der Kohlenhydratsynthese gerecht zu werden (Abb. 1) [2]. In ein kühl- und heizbares Reaktionsgefäß werden die Lösungsmittel mithilfe von Argondruck über Magnetventileinheiten geliefert, während Reagenzien und Bausteinen durch Spritzenpumpen über Rotationsventile zum Harz gegeben werden. Der gesamte Prozess wird mithilfe von Programmmodulen gesteuert und ermöglicht die komplette Synthese auf Knopfdruck ohne weitere Eingriffe. Die durch die Zugabe von starker Base von der Festphase abgespaltenen, teilweise entschützten Oligosaccharide werden durch präparative HPLC gereinigt, bevor die Abspaltung aller verbleibender Schutzgruppen durch Hydrierung die Endprodukte erzeugt. Mit den Kohlenhydratsynthesizer-Prototypen wurde eine Vielzahl biologisch relevanter Oligosaccharide wie z.B. auch Antigene für die Impfstoffentwicklung hergestellt. Typischerweise dauert es nun weniger als einen Tag, komplexe Oligosaccharide herzustellen, was bisher Wochen oder gar Monate in Anspruch nahm. Derzeit werden drei Prototypen in Holland, Kanada und den USA getestet und ein optimiertes, stark verbessertes Instrument ist in Arbeit.
Synthetische Oligosaccharide als Impfstoffe
Bereits heute werden Kleinkinder mit auf Zuckern basierenden Impfstoffen gegen Meningitis, Pneumokokken und Haemophilis influenza immunisiert. Dabei werden aus Bakterienkulturen aufgereinigte Oligo- und
Polysaccharidgemische an Trägerproteine gebunden, um Konjugatimpfstoffe zu bilden, die dann auch vom nicht voll entwickelten Immunsystem der Kleinkinder unter zwei Jahren erkannt werden. Da nicht alle Pathogene kultiviert werden können und die Aufreinigung zur Herstellung reiner Kohlenhydrate extrem schwierig oder oft unmöglich ist, ist diese Art der Impfstoffgewinnung sehr schwierig und kostspielig. Ein schneller Zugang zu synthetischen Kohlenhydratantigenen erlaubt uns nun einen völlig anderen Ansatz zur Impfstoffentwicklung. So werden aus „Biologicals“ plötzlich „Pharmaceuticals“. [3]
Die Idee, vollkommen definierte, synthetische Oligosaccharide an Trägerproteine zu koppeln, um Impfschutz vor Infektionskrankheiten zu bieten, war sicher nicht neu. Bevor es den automatischen Oligosaccharidsynthesizer gab, war es aber wenig praktikabel und sehr riskant, einige Oligosaccharide in der Hoffnung zu synthetisieren, einen wirksamen Impfstoff zu finden.
Mit der Möglichkeit, schnell auf Ergebnisse von Impftests zu reagieren, betreiben wir Medizinalchemie an hochkomplexen Molekülen. Auf diese Weise identifizierte und optimierte Antigene, die schnell zugänglich gemacht werden können, eröffnen nun vollkommen neue Perspektiven im Bereich der grundlegenden Immunologie der Kohlenhydrate und Anwendungen in der Entwicklung neuartiger Impfstoffe.
In den letzten acht Jahren konnten unser Labor und die Spin-off Firma Ancora Pharmaceuticals in Medford, USA, teilweise in Zusammenarbeit mit großen Impfstoffherstellern, mehr als zehn Impfstoffkandidaten bearbeiten. Ein Antitoxin-Impfstoffansatz gegen Malaria, der anfänglich sehr skeptisch aufgenommen wurde, ist nun im präklinischen Stadium und im Tiermodell konnten 100 % der geimpften Tiere vor dem sicheren Tod durch den Erreger Plasmodium falciparum geschützt werden. [4]
Wesentlich schneller wurden mehrere Impfstoffkandidaten gegen Bakterien und Pilze, die zu den Krankenhauskeimen zählen, entwickelt. Der enorme Bedarf durch die hohen Kosten, die diese Erkrankungen erzeugen, bietet riesige Märkte und damit kommerzielle Triebkraft. Bei allen Projekten kommt der gleiche Ansatz zum Tragen: Für sehr viele Erreger sind spezifische Zuckerstrukturen auf der Zelloberfläche bekannt. Mit dem Oligosaccharidsynthesizer werden verschiedene Oligosaccharide dieser Erreger chemisch nachgebaut und an Trägerproteine wir Tetanus- oder Diphtherietoxoid angeheftet. Diese Zucker-Protein-Konjugate werden im Tierversuch auf ihre Immunogenität getestet und erzeugten bisher immer gute Antikörper. Die Konjugate wurden im Tiermodell auf Schutz vor den entsprechenden Krankheiten getestet – auch hier wurden durchweg gute Resultate erzielt. Da wir selbst kleinste Veränderungen an den Zuckerantigenen vorzunehmen können und um das Resultat dieser Änderung zu beobachten, werden nun bisher unbekannte Strukturwirkungsbeziehungen für Impfstoffe etabliert. Anstatt isolierte Moleküle zu verwenden, die durch den Aufreinigungsprozess definiert sind, werden nun chemisch definierte Moleküle eingesetzt, die vollständig charakterisierbar und auch patentierbar sind.
Neben der Impfstoffentwicklung hat der verlässliche Zugang zu Oligosacchariden Werkzeuge hervorgebracht, die es uns erlauben, grundlegende Prozesse von Infektionskrankheiten auf molekularer Ebene zu verstehen und Fragen in den Raum zu stellen, die man vorher so niemals gestellt hätte. Besonders im Bereich der Glycosaminoglycane – z.B. des Heparins – und der glycosylphosphatidylinositol (GPI) Anker wie auch der so verankerten Prionen konnten wir wichtige Fortschritte erzielen. Die mithilfe synthetischer Zucker gewonnen grundlegenden Erkenntnisse sind nun die Basis für neue diagnostische und therapeutische Ansätze.
> peter.seeberger@mpikg.mpg.de
Abb. 1 Schematische Darstellung der Oligosaccharidfestphasensynthese
Abb. 2 Ausgewählte, durch automatisierte Synthese hergestellte Oligosaccharide
Literatur
[1] Plante, O. J., Palmacci, E. R., Seeberger, P. H. (2001): Automated Solid-Phase Synthesis of Oligosaccharides. Science 291: 1523–1525.
[2] Seeberger, P. H.; Kröck, L.; Esposito, D.; Wang, C.-C; Castagner, B; Bindschädler, P.: Fully Automated Solid-Phase Oligosaccharide Synthesis to Access Glycan Microarrays and Conjugate Vaccines; manuscript submitted.
[3] Seeberger, P.H.; Werz, D.B.; Synthesis and Medical Applications of Oligosaccharides; Nature 2007, 446, 1046–1051.
[4] Schofield, L.; Hewitt, M.C.; Evans, K.; Siomos, M.A.; Seeberger, P.H.; Synthetic GPI as a Candidate Anti-toxic Vaccine in a Model of Malaria; Nature, 2002, 418, 785–789.
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L&M 6 / 2010
Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 6 / 2010.
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