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Antibiotikaforschung – Struktur und Funktion von Tetracyclin

Antibiotikaforschung – Struktur und Funktion von Tetracyclin

Im Zeichen der 4 Ringe

Prof. Dr. Winfried Hinrichs, Gesa Volkers, Daniela Dalm, Katja Stary, Institut für Biochemie, Universität Greifswald

Im Zuge der intensiven Suche nach Wirkstoffen gegen Infektionskrankheiten wurde vor mehr als 60 Jahren das erste Tetracyclin inStreptomyces aureofaciens entdeckt ( Abb. 1a). Angesichts klinisch problematischer Resistenzmechanismen gegen praktisch alle Antibiotika bzw. Chemotherapeutika bedarf es neben neuen Wirkstoffen auch wirksamer Strukturvarianten. Im Gegensatz zur großen Zahl der β–Lactam-Antibiotika fanden bisher nur etwa 10 Tetracyclin-Derivate Anwendung in der Human- und Tiermedizin, obwohl ein Vielfaches an Varianten untersucht wurde. Seit wenigen Jahren ist ein halbsynthetisches Tetracyclin (Tigecyclin, Abb. 1b) auf dem Markt, das zurzeit als erfolgreichstes Tetracyclin-Derivat gegen resistente Organismen eingesetzt werden kann. Aktuell besitzt die Gruppe der Tetracycline einen bemerkenswerten Marktanteil von ca. 500 Mill. US-$ in 2008. Im Laufe der Zeit hat sich eine enorme Informationsflut zu den Tetracyclinen aus biochemischen, mikrobiologischen und pharmakologischen Untersuchungen ergeben. Dreidimensionale atomare Strukturen der Moleküle liefern dem Chemiker detaillierte Einsichten. Wir wollen hier Erkenntnisse der Tetracyclin-Wechselwirkungen mit Biopolymeren diskutieren, die anhand von Kristallstrukturanalysen zugänglich sind. Diese Strukturanalysen erklären die Funktion dieses Antibiotikums, aber auch zugehörige Resistenzmechanismen.

Wirkmechanismus am bakteriellen Ribosom Der biochemisch relevante Zustand eines Tetracyclins ist sein Mg2+-Komplex, [Mg Tc]+, der nicht nur vom Ribosom und prokaryotischen Elongationsfaktoren, sondern auch von Regulations- und Transport-Proteinen in einem der wichtigsten Resistenzmechanismen erkannt wird (Abb. 2a, b).


Abb. 2a Bindung des [Mg Tc]+-Komplexes nahe
der A-site des Ribosoms.


Abb. 2b Die Koordination des Mg2+-Ions (gestrichelte Linien) vermittelt die Bindung des Tetracyclins an die Phosphatgruppen des ribosomalen RNA-Stranges. Dieser Mg2+ -Komplex wird analog auch in einem Riboswitch, einem Elongationsfaktor (EF-Tu) und dem Tet-Repressor erkannt.

Die bakteriostatische Eigenschaft der Tetracycline beruht auf ihrer Bindung in der kleinen Untereinheit prokaryotischer Ribosomen, wodurch die Polypeptid-Biosynthese blockiert wird. Der pharmakologische Vorteil der Tetracycline resultiert aus ihrer geringen Affinität zu eukaryotischen Ribosomen. Es gibt auch „atypische“ Tetracyclin-Derivate mit bakteriziden Eigenschaften, die aber klinisch nicht anwendbar sind, da sie mit der Phospholipid-Doppelschicht von Zellmembranen interagieren. Der Chemie-Nobelpreis 2009 wurde für Strukturanalysen prokaryotischer Ribosomen an drei Arbeitsgruppen vergeben. Zwei der Laureaten haben auch Tetracyclin-Komplexe der kleinen Untereinheit der Ribosomen strukturell untersucht [1, 2]. Es wurden mehrere Bindungsstellen gefunden, von denen eine durch quantenchemische Rechnungen der Bindungskonstanten als einzige physiologisch relevante Position charakterisiert werden konnte [3]. Diese Tetracyclin-Bindung nahe der „A-site“ behindert die Bindung der Aminoacyl-tRNA und erklärt die inhibitorische Wirkung im Ribosom. Der antibakterielle Zielort ist exklusiv aus ribosomalen RNA-Anteilen aufgebaut. Protein- Anteile des Ribosoms spielen keine Rolle. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass geeignete RNA-Moleküle konstruiert wurden, die spezifisch Tetracycline binden und regulatorische Konformationsänderungen eingehen. Kürzlich wurde die Strukturanalyse eines solchen Tetracyclinabhängigen Riboswitches publiziert, der Tetracyclin mit hoher Affinität bindet [4].


Abb. 3 Überlagerung der TetR-Strukturen im nicht-induzierten Zustand (DNA-Komplex, blau) und dem induzierten Zustand (Tetracyclin-Komplex, gelb). Das Tetracyclin wird als Mg2+-Komplex gebunden und bewirkt die Umfaltung (schwarzer Pfeil) einer turn-Struktur. Dadurch bewegt sich die benachbarte lange Helix mit der DNA-Bindedomäne
(Drei-Helix-Bündel, links im Bild) aus der großen Furche der Operator-DNA (gestrichelter Pfeil für die Pendelbewegung).

Bindung an Elongationsfaktoren

Die spezifische Bindung der Aminoacyl- tRNA an das bakterielle Ribosom wird durch Elongationsfaktoren assistiert. Diese Proteine binden als GTP-Komplex mit der AminoacyltRNA an das Ribosom und dissoziieren nach Hydrolyse des GTP und Konformationsänderung vom Ribosom. Eine Kristallstrukturanalyse zeigt die Bindung des Tetracyclins an den GDP-Komplex des Elongationsfaktors Tu. Der Bindungsmodus im aktiven Zentrum dieser GTPase erinnert sehr an die Bindung im Ribosom. Die Autoren diskutieren diesen Protein-Tetracyclin-Komplex als zusätzliche Möglichkeit der Inhibitionswirkung der ribosomalen Polypeptid-Synthese [5].


Abb. 4 Die TetX-Strukturanalyse zeigt das Enzym
(398 Aminosäurereste) mit seinem Cofaktor FAD,
dem eine große Substrat-Bindungstasche für das
Tetracyclin benachbart ist.

Tetracyclin-Resistenzen Der Tet-Repressor

Der bekannteste und am besten untersuchte Resistenzmechanismus beruht auf einem Efflux- Mechanismus in Gram-negativen Bakterien. Die resistente Bakterienzelle erkennt das Tetracyclin mit hoher Spezifität und schleust es wieder aus, bevor die Ribosomen lahmgelegt werden. Das Repressorprotein, TetR, bindet [Mg Tc]+ und dissoziiert anschließend von der DNA-Kontrollregion tetO des Resistenz-Gens. Dadurch wird die Expression eines Membranproteins, TetA, induziert, das den [Mg Tc]+-Komplex gegen ein Proton ladungsneutral durch die Cytoplasma- Membran ausschleust (proton motive force). Da die Synthese des TetA von funktionsfähigen Ribosomen abhängt, muss TetR den [Mg Tc]+-Komplex um einige Größenordnungen empfindlicher binden, bevor er Ribosomen blockiert. Als Konsequenz liegt ein hochspezifisches Tetracyclin-abhängiges Regulationssystem vor, das aktuell in der gentechnischen Forschung für die spezifische Regulation eukaryotischer Genexpression in transgenen Organismen eingesetzt wird. Durch Anwendung von TetR-Varianten und Tetracyclin-Mimetica können die Schalteigenschaften so variiert werden, dass nicht nur eine gezielte Induktion, sondern auch eine Repression möglich wird (tet-on, tet-off). Diese Entwicklungen beruhen auf Arbeiten der Arbeitsgruppe von Wolfgang Hillen (Univ. Erlangen).

Der TetR-Mechanismus

Das TetR/Tc-System ist durch Kristallstrukturanalysen des freien TetR, seinen verschiedenen Komplexen mit [Mg Tc]+ und einem Komplex mit einem 15 Basenpaare umfassenden tetO-Fragment eingehend charakterisiert [6, 7]. Aus diesen Strukturen beziehen wir unsere gegenwärtigen Vorstellungen über den Mechanismus der allosterischen Prozesse im TetR, die nach [Mg Tc]+-Bindung zur Dissoziation des TetR/DNA-Komplexes führen [8], die hier kurz angesprochen werden sollen. Die Quartärstruktur des TetR besteht aus einem Homodimer mit zwei DNA-bindenden Domänen und einer regulatorischen Rumpf-Domäne mit zwei tunnelförmigen Tetracyclin-Bindungstaschen. Kurz zusammengefasst spielen sich folgende Schritte in beiden monomeren Untereinheiten ab: Nach der Bindung des [Mg Tc]+- Komplexes wird, unterstützt durch die Mg2+- Koordination, die C-terminale α-helicale Windung der kurzen Helix α6 zu einem β-turn umgefaltet (Abb. 3). Dadurch verändert sich der hydrophobe Kontakt zu einer anderen Helix α4, die C-terminal durch das Tc fixiert ist. Es wird eine Pendelbewegung dieser Helix erzwungen und die N-terminale DNA-bindende Domäne (α1-3) wird in eine Orientierung gebracht, die eine DNA-Bindung unmöglich macht. Diese Kaskade allosterischer Prozesse konnten wir durch moleküldynamische Simulationen im Detail bestätigen [9].

Die Monooxygenase TetX

Eine neuartige Tetracyclin-Resistenz beruht auf dem chemischen Abbau der Tetracycline durch eine flavin-abhängige Monooxygenase, die als TetX bekannt ist. Nach Reduktion des FAD durch NADPH bildet das Flavin mit molekularem Sauerstoff ein Hydroperoxid, welches das Tetracyclin-Grundgerüst am C11a hydroxyliert. Dieses erste charakterisierte Produkt reagiert weiter zu undefinierten polymeren Verbindungen, die für das resistente Bakterium nicht mehr toxisch sind. TetX kann alle medizinisch relevanten Tetracycline abbauen [10]. Dazu gehört auch Tigecyclin, dessen klinische Anwendung bisher nicht von Resistenzen eingeschränkt ist, obwohl bereits derartige Befürchtungen in einzelnen Fällen vorliegen. Unsere erste TetX-Strukturanalyse zeigt das Enzym mit seinem Cofaktor FAD, dem benachbart eine große Substrat-Bindungstasche für das Tetracyclin sichtbar ist (Abb. 4). Gegenwärtig sind wir dabei, das Tetracyclin durch Methoden des Molecular Modelling im aktiven Zentrum des TetX zu positionieren. Zukünftig befassen wir uns mit der strukturellen Aufklärung der Tetracyclin-Bindung und dem enzymatischen Reaktionsmechanismus. Durch strukturbasiertes Enzym- Design sollte es möglich sein, auch sehr große biotechnologisch lukrative Substrate einer Monooxygenase-Reaktion zuzuführen.

Nichtantibiotische Eigenschaften der Tetracycline

„Jedes gute Medikament hat seine Nebenwirkungen.“ Sind Nebenwirkungen heutiger Medikamente die Grundlagen für Medikamente von morgen?

Im Idealfall ist die Bindung eines Medikamentes an sein biologisches Zielmolekül hochspezifisch und alternative Bindungsorte spielen keine Rolle. Doch pharmakologisch wirksame Verbindungen haben in der Regel Nebenwirkungen, da unterschiedliche Bindungskonstanten zu verschiedenen Proteinen, DNA oder RNA vorhanden sind. In den letzten Jahrzehnten wurden bei der klinischen Anwendung verschiedene nicht- antibiotische Eigenschaften der Tetracycline beobachtet und auch experimentell untersucht [11]. So haben Tetracycline unter anderem Einfluss auf Prozesse der Angiogenese, Aptoptose und hemmen Entzündungsprozesse [12]. In der biochemischen Kaskade der Entzündungsprozesse spielen Eicosanoide als Signalmoleküle eine Schlüsselrolle. Deren Synthese aus Bestandteilen der Phospholipid- Membran wird durch die Phospholipase A2 und Cyclooxygenasen katalysiert. Daher sind viele Inhibitoren dieser Enzyme bekannt (z.B. Aspirin, Diclofenac). Es wurden enzymatische Assays publiziert, die ein- deutig nachwiesen, dass lipophile Tetracycline (z.B. Minocyclin, Abb. 1c) die Phospholipase A2 hemmen [13]. Das haben wir zum Anlass genommen, eine Kristallstrukturanalyse eines Phospholipase-Komplexes durchzuführen [14]. Minocyclin bindet am Eingang des aktiven Zentrums des Enzyms und verhindert die Koordination eines Ca2+-Ions, das für die Hydrolyse von Glycerophospholipiden essenziell ist (Abb. 5).


Abb. 5a Minocyclin-Komplex der Phospholipase A2 in zwei unterschiedlichen Projektionen. Das Minocyclin versperrt den Eingang zum aktiven Zentrum.


Abb. 5b Trimere Anordnung des Phospholipase-Komplexes in der Kristallstruktur.

Der Kontakt mit dem Protein findet über lipophile Bereiche des Tetracyclins statt, die für die antibiotische Wirkung keine Bedeutung haben. Das erklärt auch die analogen Wirkungen von chemisch modifizierten Tetracyclinen, deren Substituentenmuster keine antibiotische Wirkung erlauben. Diese Strukturanalyse macht uns neugierig auf strukturelle Eigenheiten der Tetracyclin- Bindung an andere Proteine, bei denen nicht-antibiotische Tetracyclin-Wirkungen bekannt sind. Im Idealfall ergeben sich pharmakologisch relevante Leitstrukturen zur Entwicklung spezifischer Wirkstoffe.


Abb. 6 Tetracyclin-Repressor mit gebundenem
Tetracyclin wie es Fiona Isabella Hinrichs als neugierige
6-Jährige verstanden hat.


Vom Institut in Greifswald ist es nur ein Spaziergang zur Ostsee. Wir arbeiten also dort, wo andere Urlaub machen. Beginnend oben rechts im Bild sind im Uhrzeigersinn um Winfried Hinrichs versammelt: Dipl.-Biochem. Gesa Volkers, Dipl.-Biochem. Xenia Bogdanovic, Dipl.-Biochem. Daniela
Dalm, Diplomandin Katja Stary, Dr. Gottfried Palm und Dr. Sebastian Werten.

Literatur
[1] Brodersen, D. E. et al. (2000) Cell 103, 1143–1154
[2] Pioletti, M. et al. (2001) EMBO J. 20, 1829–1839
[3] Aleksandrov, A. & Simonson, T. (2008) Jour. Amer. Chem.
Soc. 130, 1114–1115
[4] Xiao, H. et al. (2008) Chem. Biol. 15, 1125–1137
[5] Heffron, S.E. et al. (2006) Acta Crystallogr. Sec D: Biol. Crystallogr.
62, 1392–1400
[6] Hinrichs, W. et al. (1994) Science 264, 418–420
[7] Orth, P. et al. (2000) Nat. Struct. Biol. 7, 215–219
[8] Saenger, W. et al. (2000) Angew. Chem. 112, 2122 –2133;
Angew. Chem. Int. Ed. 39, 2042–2052
[9] Aleksandrov, A. et al. (2008) Jour. Mol. Biol. 378, 896–910
[10] Moore, I.F. et al. (2005) Biochemistry 44, 11829–11835
[11] R.A. Greenwald, W. Hillen, M.L. Nelson. Tetracyclines in
Biology, Chemistry and Medicine. Birkhäuser Verlag, Switzerland,
2001.
[12] Eklund, K.K. & Sandler, C. (2007) Anti-Inflamm. Anti-
Allerg. Agents Med. Chem. 6, 253–263
[13] Pruzanski, W. et al. (1998) J. Rheumatol. 25, 1807–1812
[14] Dalm, D. et al. (2010) Jour. Mol. Biol. 398, 83–96

L&M 4 / 2010

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 4 / 2010.
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