Hominidenart entdeckt: Australopithecus sediba
Ursprungskandidat der Gattung Homo
Ein internationales Forscherteam schreibt an der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Anfang April berichteten Wissenschaftler um Prof. Lee Berger von der südafrikanischen Universität Witwatersrand, Johannesburg, Prof. Paul Dirks von der australischen James Cook Universität, Townsville, und Dr. Peter Schmid vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich im Fachjournal Science (Vol. 238, 195204, 2010) von der Entdeckung einer bisher unbekannten Vormenschenart, Australopithecus sediba, die als mögliches Bindeglied zwischen Australopithecinen, den noch affenartigen Vormenschen, und der Gattung Homo diskutiert wird. Fundort der neuen Spezies ist die in der Nähe der berühmten südafrikanischen Hominidenfundstellen von Sterkfontein, Swartkrans und Kromdraai in der Provinz Gauteng gelegene Malapahöhle. Bisher wurden die Überreste von zwei Individuen, einem etwa 13jährigen Jungen und einer ungefähr 30jährigen Frau beschrieben. Knochenfragmente von zwei weiteren Individuen befinden sich noch in Bearbeitung. Als erstes Grabungsteam konnte die Swiss Fieldschool der Universität Zürich die neue Fundstelle in der Malapahöhle bearbeiten. Dr. habil. Jürgen Schweizer vom Verein Homo heidelbergensis von Mauer e.V. war für labor&more im Gespräch mit Dr. Peter Schmid über die Bedeutung des spektakulären Knochenfundes.
Dr. Jürgen Schweizer: Herr Dr. Schmid, können Sie unseren Lesern erläutern, welche zeitliche Vorstellung die Wissenschaftler vor der Entdeckung der neuen Spezies zur Übergangsphase vom Affenmenschen zur Gattung Homo hatten, welche Spezies dabei involviert waren und wo das bestehende Konzept noch Lücken aufwies?
Dr. Peter Schmid: Die jüngsten Formen der Gattung Australopithecus dürften 2,1 Mio. Jahre alt sein, während die eindeutigsten Vertreter der Gattung Homo (= Homo erectus) um 1,7–1,8 Mio. Jahre alt sind. Es werden allerdings noch andere Fossilien als früheste Vertreter postuliert: Homo habilis und Homo rudolfensis. Dabei handelt es sich allerdings lediglich um fragmentarische Reste sowie meist unsicher datierte Oberflächenfunde. Aufgrund der wenigen Informa tionen werden sie deshalb in der Fachwelt immer noch stark diskutiert. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass praktisch keine Information über die Reste des Bewegungsapparates vorliegen. Die typisch menschliche Fortbewegungsweise ist ein wesentlicher Ankerpunkt in der Diskussion. Australopithecus war zwar ein Zweibeiner, jedoch zeigt er auch noch viele Anpassungen ans Klettern.
Wir würden gerne etwas über die Fundgeschichte und -umstände der neuen Spezies erfahren. Nach den vorliegenden Meldungen erinnert diese ja zumindest in einem Aspekt unübersehbar an die Entdeckung der eiszeitlichen Höhlenmalereien in der spanischen Altamirahöhle. Was hat denn Ihre Kollegen Berger und Dirks veranlasst, in der Malapahöhle nach Resten von Hominiden zu suchen?
Natürlich hat der Umstand, dass der 9- jährige Matthew den ersten Hominidenrest gefunden hat, etwas Anekdotenhaftes an sich. Mein Kollege Lee Berger hat jedoch zusammen mit Paul Dirks eine Kartierung der Höhlen in der Gegend in Angriff genommen. Es wurden Dutzende von neuen Höhlen aufgenommen, wovon ca. 60 Knochenmaterial enthalten. Wir haben gemeinsam seit 1993 eine etwa zwei Kilometer entfernte Höhle untersucht und tausende von Wirbeltierresten gefunden, darunter wenige Zahnfragmente von Menschenartigen und ein Fingerglied. Die Hominidenreste sind im Allgemeinen sehr selten. In Matthews Block war ein Schlüsselbein und ein Kieferstück vorhanden. Das Erstere wurde bis anhin fast nie gefunden, des Letztere war aufgrund seiner Menschenähnlichkeit sehr interessant. In der Folge konkretisierte sich das Unerwartete: Die Hominidenfunde waren anfangs zahlreicher als die übrigen Tierreste und belaufen sich bis heute auf ca. 180 Elemente. Sie gehören mehrheitlich zu zwei Individuen, die zusammen mehr und vollständigere Reste liefern als die sehr bekannte „Lucy“ (Australopithecus afarensis).
Welche Bedeutung hat die neu entdeckte Spezies für unsere Entwicklung besitzt, geht schon daraus hervor, dass das Forscherteam selbst offensichtlich heftig mit sich über ihre Zuordnung zu den Australopithecinen oder der Gattung Homo gerungen hat. Welche anatomischen Merkmale haben dann letztlich den Ausschlag für die Gattung Australopithecus gegeben?
Es war von Anfang an klar, dass es sich hier um eine völlig unbekannte Form handeln musste. Ein Vergleich mit den Kiefern von Australopithecus zeigte eine Mischung aus Australopithecus und Homo. Die Reste eines vollständigen Armskeletts sind von einem Australopithecus nicht unterscheidbar, was sogar an kleinsten Elementen wie Handwurzelknochen zu erkennen ist. Das Verhältnis zwischen Ober- und Unterarm entspricht einem Orang-Utan (Abb. 1). Das Gesicht hingegen hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem Turkana-Boy (H. erectus aus Kenia). Besonders aber die Ausgestaltung der Gehirnkapsel unterstreicht dies deutlich (Abb. 2). Ebenso zeigt auch das Becken mehr Merkmale der Gattung Homo. Da jedoch die Gehirnvergrößerung bis anhin als wichtiges Argument für die Zuordnung zu Homo gegolten hat, entschieden wir uns, gestützt auf 420 cm3 Schädelinhalt, für die konservative Lösung. Das letzte Wort scheint allerdings noch nicht gesprochen zu sein.
Was macht die außergewöhnliche Bedeutung der jetzigen Funde aus?
Zum einen ist es die mosaikartige Zusammensetzung der Merkmale, die Australopithecus sediba als ideale Übergangsform charakterisiert. Zum anderen ist es die Vollständigkeit der Reste, die in der Stammesgeschichte einzigartig ist. Sie wird es erlauben, die Gattung Homo neu zu definieren sowie die Gattung Australopithecus genauer zu fassen. Wir haben den Rosetta- Stein der Anthropologie vor uns.
Welche Methoden sind zur Altersbestimmung der Fossilien zum Einsatz gekommen und wie sicher sind die Altersangaben?
Die Begleitfauna erlaubt es uns, die Schicht zwischen 2,3 Mio. Jahren (frühestes Erscheinen der Pferdeartigen) und 1,5 Mio. Jahren (Aussterben der Säbelzahnkatzen) einzugrenzen (Abb. 3). Die darunter liegende Sinterschicht wurde mit radiometrischen Methoden von zwei Labors (Bern, Melbourne) unabhängig auf 2,024 bzw. 2,026 Mio. Jahre datiert. Außerdem ordnen die paläomagnetischen Signale die Schicht in das Olduvai-Subchron ein (1,76–1,89 Mio. Jahre).
Wie haben die neuen Funde Ihrer Meinung nach die Vorstellungen hinsichtlich der Übergangsphase Affenmensch-Homo verändert? Es kann nicht übersehen werden, dass das für Australopithecus sediba bestimmte Alter von maximal 2 Mio. Jahren ihn als Vorfahren des deutlich älteren Homo habilis oder Homo rudolfensis ausschließen würde. Halten Sie Australopithecus sediba eher für den Vorfahren von Homo erectus?
Zurzeit sind die unterschiedlichsten Meinungen zur Übergangsphase vorhanden, was in den ersten Äußerungen von Fachkollegen ersichtlich ist. Wir meinen, dass unser „Rosetta-Stein“ die Diskussionen befruchten wird. Jeder neue Fund muss diskutiert werden und trägt einen Mosaikstein zum Verständnis unserer Vergangenheit bei. Wir sind offen für diese Debatte und sind überzeugt, dass die Vollständigkeit der Reste sowie die Datierung zu einem Neuansatz führen werden. Die Kiefer- und Schädelfragmente aus Ostafrika, der Unterkiefer aus Malawi und der Oberkiefer aus Hadar sind mit Blick auf Australopithecus sediba zu schwache Argumente, um den Übergang von Australopithecus zu Homo erectus weiterhin über Homo habilis oder Homo rudolfensis zu postulieren.
Knochenreste von zwei weiteren Australopithecus sediba-Individuen sind noch in Bearbeitung und könnten noch zusätzliche wichtige Informationen über diese Spezies und ihre Rolle bei der Entwicklung des Menschen liefern. Welche Erkenntnisse erwarten Sie?
Im Februar haben meine Studenten mindestens 30 neue Elemente ausgegraben, darunter Beckenknochen, Kreuzbein und Lendenwirbel. Wir sind damit in der Lage, die Fortbewegungsweise zu analysieren. Dabei spielen auch die Rippen und die Wirbel eine wichtige Rolle. Bereits geben auch Reste von Zahnstein und viele weitere Details zur Ernährung. Heute sind es über 60 Wissenschaftler, die am Projekt beteiligt sind. Wir erwarten eine Fülle an neuen Informationen und sind bestrebt, offene Diskussionen zu führen. Die Zeiten müssen vorbei sein, wo man Funde Jahrzehnte vor den Kollegen versteckt gehalten hat. Hier geht es um ein kulturelles Welterbe, das nicht persönlichen Karriere- und Machtgelüsten zum Opfer fallen soll.
Werden Sie auch weiterhin an den Grabungen in Südafrika teilnehmen?
Wenn es Gesundheit und Finanzen erlauben, wird die Frage hinfällig.
Herr Dr. Schmid, herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für Ihre weiteren Arbeiten!
Stichwörter:
Paläontologie, Menschheit, Hominidenfunde, neue Spezies, Entwicklungsgeschichte, Australopithecus sediba
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L&M 3 / 2010
Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 3 / 2010.
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