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Gefangene Kohlensäure

Beim Begriff „Kohlensäure“ denken viele an prickelnde Getränke wie Mineralwasser, Cola, Sekt oder Champagner. Leser dieses Magazins erinnern sich
bestimmt an den Artikel „Kohlendioxid – das entscheidende Prickeln“ von Eric Marioth (labor&more Ausgabe 1/Jahr 2007) und fragen sich vielleicht: Kohlendioxid? Kohlensäure? Welches Molekül ist für das Prickeln verantwortlich? Die Antwortet lautet: Zu mehr als 99,9 % ist es Kohlendioxid. Kohlensäure ist in „kohlensäurehaltigen“ Getränken eigentlich kaum vorhanden (< 0,1 %) [2]. Diese geringe Menge genügt aber bereits, dass der pH-Wert von 7 auf 5–6 sinkt. Aufgrund der sauren Reaktion, die abläuft, wenn CO2 in Wasser gelöst wird, hat man in der älteren Literatur das Gas fälschlich „Kohlensäure“ genannt.

Heute wird zwischen Kohlensäure, H2CO3 und Kohlendioxid, CO2 unterschieden. Die saure Reaktion der wässrigen Lösung kommt dadurch zu Stande, dass die Kohlensäure in wässriger Lösung dissoziiert und ein Proton (H+) sowie ein Hydrogenkarbonat-Anion (HCO3 –) bildet. Letzteres ist wiederum am chemischen Gleichgewicht beteiligt, das zu Kalkablagerungen in kalziumhaltigem Wasser bzw. zur Verstopfung von Wasserleitungen führen kann. Kohlensäure (pKS= 3,4) ist sogar eine stärkere Säure als etwa Essigsäure (pKS= 4,7) oder Ameisensäure (pKS= 3,8).

Wege zur kristallinen Kohlensäure

Dies gilt allerdings nur für reine Kohlensäure und diese ist laut einigen aktuellen Chemielehrbüchern „instabil und kann nicht in Reinform isoliert werden“. Bereits Anfang der 1990er-Jahre wurde aber gezeigt, dass sich Kohlensäure als Festkörper in Reinform herstellen lässt. Eine Arbeitsgruppe der NASA konnte Kohlensäure durch hochenergetische Bestrahlung von CO2-Eis (Trockeneis) und H2O-Eis (Wassereis) herstellen [3]. Die Reaktionsbedingungen wurden so gewählt, dass eine astrophysikalische Relevanz gegeben und davon auszugehen ist, dass sich Kohlensäure im Weltall dort bildet, wo sich Trockeneis und Wassereis gleichzeitig befinden und einer harten Strahlung ausgesetzt sind [4]. Dies ist etwa auf den Polkappen des Mars oder auf vielen Kometen der Fall. Dem Arbeitskreis in Innsbruck um Prof. Erwin Mayer gelang es mithilfe einer damals neu entwickelten Tieftemperaturtechnik, die Reaktion H+ + HCO3 –?H2CO3?CO2 + H2O beim Zwischenprodukt Kohlensäure zu stoppen [5]. Säuert man Hydrogenkarbonat-Salze bei Raumtemperatur an, so kommt es augenblicklich zu starker Kohlendioxidbildung. Führt man die Reaktion bei tiefen Temperaturen durch, etwa –100 °C, so ist zwar der erste Reaktionsschritt schnell genug, dass sich H2CO3 bilden kann, der zweite aber zu langsam, sodass die Kohlensäure als Zwischenprodukt erhalten bleibt. Dieses Zwischenprodukt befindet sich zuerst noch gelöst im Lösungsmittel, in gefrorenem Wasser. Das Lösungsmittel lässt sich im Vakuum verdampfen, während die Kohlensäure als feste Reinsubstanz kristallin erhalten bleibt [6]. Wechselt man das Lösungsmittel und verwendet statt Wasser Methanol, so bildet sich ebenfalls kristalline Kohlensäure [7]. Diese zeigt aber eine andere Kristallstruktur als die aus wässriger Lösung. Man spricht von zwei Polymorphen: alpha-Kohlensäure bzw. beta-Kohlensäure. In den vergangenen zwanzig Jahren sind noch zwei weitere Wege zur reinen Kohlensäure entdeckt worden: Die Protonenbestrahlung von Trockeneis [8] bzw. Reaktion von OH-Radikalen mit Kohlenmonoxid [9]. Beide Wege führen zur kristallinen Kohlensäure, die bei Temperaturen unterhalb –50 °C stabil ist.

Gasförmige Kohlensäure existiert!

Doch was passiert, wenn man die kristalline Kohlensäure langsam bis Raumtemperatur aufwärmt und versucht, sie in die Gasphase zu überführen? Auch hier geben Chemielehrbücher Auskunft: „… zerfällt augenblicklich zu Kohlendioxid und Wasser“, ist da beispielsweise zu lesen. Berechnungen zeigen aber, dass trockene Kohlensäure sehr langlebig ist, während ein schneller Zerfall nur für feuchte Kohlensäure zu erwarten ist [10]. Zur Überprüfung stellte Jürgen Bernard sowohl alpha- als auch beta-Kohlensäure her. Unter Kühlung wurde sie in eine Hochvakuumanlage eingebracht, die gesamte Apparatur evakuiert, aufkondensierte Feuchte von der Kohlensäure entfernt und die Temperatur des Probenträgers langsam erhöht, bis die Kohlensäure sublimierte. Dies geschah bei etwa –60°C im Falle der alpha-Kohlensäure und bei ca. –30 °C im Falle der beta-Kohlensäure. Die Moleküle in der Gasphase wurden mit Argongas auf einen gekühlten Goldspiegel (ca. –267 °C) kondensiert. Mithilfe von Infrarot- Spektroskopie, ab initio Berechnungen und durch gezielte Variation der experimentellen Bedingungen (Isotopensubstitution, Temperaturänderungen, Kohlensäure-zu-Matrix-Verhältnis, Tausch des Matrixgases, UV-Bestrahlung) konnten wir die eingefangenen Moleküle und Molekülcluster in der Argonmatrix bestimmen. Nach der Sublimation der alpha-Kohlensäure fanden wir nur sehr wenig Kohlendioxid und Wasser, aber zwei Konformere der Kohlensäure, die sich durch die Orientierung eines Wasserstoffatoms im Raum unterscheiden. Zusätzlich entdeckten wir Kohlensäure-Dimere, die via Wasserstoff brückenbindungen zentrosymmetrisch angeordnet sind [1].

Kohlensäure im All

Entfernt man die Matrix durch Aufheizen des Goldspiegels, befreit sozusagen die gefangenen Einzelmoleküle wieder, so bildet sich wieder ein Kohlensäurekristall. Interessanterweise bildet sich der beta-Kristall, wennzZuvor beta-Kohlensäure sublimiert wurde, und der alpha-Kristall, wenn zuvor alpha-Kohlensäure sublimiert wurde. Das bedeutet, dass die Information in der Gasphase nicht verloren geht, sondern bestimmte Bausteine der Kristallstruktur auch nach der Sublimation erhalten bleiben. Unsere Arbeiten zeigen, dass man Kohlensäure ohne Zersetzung sublimieren und rekondensieren kann. Dies bedeutet aber auch, dass im Weltall möglicherweise nicht nur feste, sondern auch gasförmige Kohlensäure vorkommt, etwa in der Marsatmosphäre oder im Schweif von Kometen, die sich der Sonne nähern. Die vorliegenden Spektren können nun mit entsprechenden Satellitenaufnahmen verglichen werden und so die Existenz von Kohlensäure im All überprüfen [1].

Literatur
[1] J. Bernard, M. Seidl, I. Kohl, K. R. Liedl, E. Mayer, O. Galvez, H. Grothe, T. Loerting, Angew. Chem., Int. Ed. 2011, 50, 1939.
[2] T. Loerting, J. Bernard, ChemPhysChem 2010, 11, 2305.
[3] M. H. Moore, R. K. Khanna, Spectrochim. Acta, Part A 1991, 47A, 255.
[4] W. Hage, K. R. Liedl, A. Hallbrucker, E. Mayer, Science 1998, 279, 1332.
[5] W. Hage, A. Hallbrucker, E. Mayer, J. Am. Chem. Soc. 1993, 115, 8427.
[6] W. Hage, A. Hallbrucker, E. Mayer, J. Chem. Soc., Farad. Trans. 1996, 92, 3197.
[7] W. Hage, A. Hallbrucker, E. Mayer, J. Chem. Soc., Farad. Trans. 1996, 92, 3183.
[8] J. R. Brucato, M. E. Palumbo, G. Strazzulla, Icarus 1997, 125, 135.
[9] Y. Oba, N. Watanabe, A. Kouchi, T. Hama, V. Pirronello, Astrophys. J. 2010, 722, 1598.
[10] T. Loerting, C. Tautermann, R. T. Kroemer, I. Kohl, A. Hallbrucker, E. Mayer, K. R. Liedl, Angew. Chem., Int. Ed. 2000, 39, 892.

Foto: © Prof. Dr. Thomas Lörting / Prof. Dr. Hinrich Grothe

L&M 5 / 2011

Diese Artikel wurden veröffentlicht in Ausgabe L&M 5 / 2011.
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